Es wurde gemunkelt, dass das Gartenhaus von Tsuyoshi Tane die letzte Erweiterung des Vitra Campus in Weil am Rhein sein würde.
Zum Glück hat sich der Wind gedreht, denn mit dem Projekt Khudi Bari von Marina Tabassum hat der Vitra Campus einen Neuzugang erhalten, der ihn nicht nur physisch erweitert…
Khudi Bari wurde 2020 von der in Dhaka, Bangladesch, geborenen und lebenden Architektin Marina Tabassum als Projekt für „die marginalisierte landlose Bevölkerung, die im Sandbett des Flusses Meghna lebt“, entwickelt. Khudi Bari ist ein modulares Bausystem aus Stahl- und Bambuskomponenten, das nicht nur schnell und einfach zu errichten, sondern auch ebenso schnell und einfach abzubauen, zu versetzen und wieder aufzubauen ist. Diese Mobilität der Architektur wird zu einer wichtigen Erfordernis, weil Monsunüberschwemmungen, schwankende Flussläufe und das Verschwinden und Wiederauftauchen des Landes in den Flussdeltas einen großen Teil Bangladeschs betreffen. Schon vorhandene problematische Lebensbedingungen werden durch die Klimakrise verstärkt. So verschlimmert sich die Situation, sodass Familien und Gemeinschaften immer häufiger umgesiedelt werden müssen.
Als খুদিবাড়ি, ein khudi bari – ein kleines Haus – zeichnet sich Khudi Bari neben der Verwendung lokaler Materialien, einer sehr durchdachten Konstruktion und einer einfachen, ansprechenden Ästhetik, vor allem dadurch aus, dass es zweigeschossig ist. Die Hauptwohnung befindet sich im Obergeschoss, was den Menschen und ihrem Hab und Gut Sicherheit und Schutz vor den unvermeidlichen Überschwemmungen bietet, bis sie zurückgehen.
Im Jahr 2021 wurden die ersten drei Khudi Bari von der von Tabassum mitinitiierten Foundation for Architecture and Community Equity in Chor Hijla realisiert. Dabei handelt es sich um eine Gemeinde auf einer Insel im Meghna südlich von Chandpur, wenn wir richtig informiert sind. Bei diesem Trio von Khudi Bari geht es nicht nur darum den Bewohnern sichere, dauerhafte und klimaresistente Häuser zu bieten, sondern auch um einen Feldversuch, um besser zu verstehen, wie Tabassums Theorie in der tatsächlichen Nutzung durch die Menschen aussieht, ob Khudi Bari für die Eigentümer funktioniert. So soll es durch den Feldversuch die Möglichkeit geben, das Konzept durch praktische Erfahrungen und von den Nutzern initiierte Anpassungen in sinnvolle Richtungen weiterzuentwickeln. Die Weiterentwicklung von Projekten an Ort und Stelle haben viele Architekten im Laufe der Jahrzehnte versäumt, dabei wäre ein solcher Ansatz für den langfristigen Erfolg wesentlich. Dem Trio von Khudi Bari werden sich in naher Zukunft dank der finanziellen Unterstützung der Schweizer Botschaft in Bangladesch 100 weitere anschließen.
Ab Sommer 2024 ist außerdem ein Exemplar am südwestlichen Rand des Oudolf-Gartens des Vitra-Campus zu besichtigen.
Der Vitra Campus ist ein Ort, der höchstwahrscheinlich niemals mit den Verwüstungen, Herausforderungen und Belastungen des Meghna-Deltas konfrontiert werden wird und an dem Tabassums Khudi Bari völlig aus dem Kontext gerissen wird. Trotzdem handelt es sich um einen äußerst geeigneten Ort, weil er einen besonders lehrreichen und informativen Vergleich von Khudi Bari mit seinem Nachbarn, Renzo Pianos Diogenes, ermöglicht. Dabei handelt es sich um ein weiteres kleines Haus, das jedoch nicht als sinnvolles, reaktionsfähiges Quartier im Kontext des Klimawandels konzipiert ist, sondern als High-End-Konsumgut für diejenigen, die viel Geld übrig haben für eine Wochenendunterkunft am Rande einer ruhigen, abgelegenen Wiese wie dem Oudolf-Garten. Dabei geht es nicht um eine Kritik an Renzo Piano oder Diogen, ganz im Gegenteil1 , sondern um einen Vergleich von Diogen und Khudi Bari. Welche Motivationen, Materialien und Märkte stecken hinter Diogen und Khudi Bari? Wie unterscheiden sich die Funktion und das Verhältnis zur jeweiligen Umgebung? Khudi Bari bietet eine spannende Grundlage, um über die Rolle der Architekten und der Architektur auf dem Weg ins 21. Jahrhunderts nachzudenken. Bleibt die Frage, ob wir mehr Diogenes oder mehr Khudi Bari brauchen?
Und wie bekommen wir das, was wir brauchen, nicht nur im Meghna-Delta, sondern weltweit realisiert?
Über das auf dem Vitra Campus präsentierte zweigeschossige Haus hinaus ist Khudi Bari als modulares Bausystem wie ein Mini, Midi, Maxi-System von Fritz Haller skalierbar, und Marina Tabassum hat aus dem Konzept beispielsweise auch Gemeindezentren für die Rohingya-Flüchtlingssiedlung in Cox’s Bazar im Südosten Bangladeschs entwickelt. Hier wird ein weiterer potenzieller Nutzen, ein Bedarf und eine Nachfrage nach solchen kostengünstigen, technologiearmen, lokalen Bauprinzipien im Kontext unserer gegenwärtigen und zukünftigen globalen Realität herausgestellt.
Neben der Möglichkeit, Khudi Bari auf dem Vitra Campus aus nächster Nähe zu betrachten und es in den Kontext der anderen Architektur auf dem Campus zu stellen, gibt es in der Galerie des Vitra Design Museums Modelle, die das Konstruktionsprinzip erklären, sowie Fotos und ein Video von Khudi Bari in situ, die einen tieferen Einblick in das Projekt ermöglichen (zumindest als wir dort waren). Diese kurze Präsentation von Khudi Bari ist ein Teil der Präsentation zur Geschichte des Vitra-Campus seit 1937, die nicht nur wegen der Einführung in den Vitra-Campus und der damit verbundenen nuancierteren Annäherung an das Areal empfehlenswert ist, sondern vor allem wegen eines Fotos aus dem Jahr 1989, das den langjährigen Vitra-CEO und Vordenker Rolf Fehlbaum in einem schicken Anzug und mit einem noch schickeren Schnurrbart zeigt.
Die Einführung in die Geschichte des Vitra Campus unterstreicht außerdem, wenn man sie im Kontext von Khudi Bari und auch von Tsuyoshi Tanes Gartenhaus betrachtet, warum die Entwicklung des Vitra Campus nicht aufhören sollte und nicht aufhören darf. Denn der Vitra Campus hat sich in letzter Zeit von einer Sammlung von Werken von Architekten zu einem Ort für Diskussionen über Architektur entwickelt. So übernimmt der Vitra Campus langsam eine neue Funktion und stellt unter Beweis, dass man hier die konzeptionellen, sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen Diogene und Khudi Bari versteht und zum dazugehörigen Diskurs beitragen will. Das ist sehr zu begrüßen und zu fördern. Und als Einladung zu verstehen.
Khudi Bari von Marina Tabassum ist rund um die Uhr das ganze Jahr über auf dem Vitra Campus in Weil am Rhein zu sehen. Alle Details sind unter www.vitra.com/campus zu finden.
Die Präsentation in der Vitra Design Museum Galerie kann zum Zeitpunkt Ihres Besuchs laufen oder auch nicht, es gab leider keine Angaben zur Laufzeit. Siehe www.design-museum.de für weitere Details.
1. Renzo Piano hat bei unzähligen Gelegenheiten seine Sensibilität für die Bedürfnisse der Natur und der Gemeinschaften unter Beweis gestellt, er hat oft über anonyme Volkssprachen nachgedacht, die mehr Gültigkeit haben als akademische Theorien, er hat mit seiner sofortigen Reaktion auf den Einsturz der Ponte Morandi in Genua echte Selbstlosigkeit bewiesen. Und Diogene ist und war so konzipiert, dass es nachhaltig, verantwortungsvoll und unaufdringlich ist. Aber Diogene wurde auch entworfen, um als Alternative zu einer Yacht für die Reichsten der Gesellschaft verkauft zu werden, oder als Objekt für diejenigen, die eine Yacht und einen Privatjet besitzen und noch Geld haben, mit dem sie nichts anzufangen wissen. Das ist an sich nicht falsch, muss aber im Kontext der Architektur von und für diejenigen gesehen werden, die nicht nur keine Yacht oder keinen Jet haben, sondern auch kein Grundstück, um ein Haus zu bauen. Und schon gar kein Wochenendhaus mit Vitra-Möbeln. Im Dialog mit einem Haus, das für genau solche Menschen entworfen wurde, werden deshalb wichtige Fragen an Architekten und Architektur aufgeworfen. Ohne Renzo Piano oder Diogenes grundsätzlich in Frage zu stellen
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