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"Es ist nicht möglich, einen Stil in meinem Werk zu definieren"1, sagte einst die italienische Architektin und Designerin Gae Aulenti. Das Schaudepot des Vitra Design Museums widersprach ihr da mit der Ausstellung "Gae Aulenti. Ein kreatives Universum" zwar nicht, gab allerdings einen Kontext vor, innerhalb dessen man überlegen kann, wie richtig die Designerin mit ihrer Aussage lag. Die Ausstellung, die vom 29. Februar 2020 bis zum 18. April 2021 zu sehen war, beleuchtete ihre Arbeit im größeren Kontext des Designs.
Gaetana "Gae" Aulenti wurde am 4. Dezember 1927 in Palazzolo dello Stella (Udine) geboren und studierte Architektur am Polytechnikum Mailand, wo sie 1953 ihren Abschluss machte und danach inmitten des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Wiederaufbaus im Italien der Nachkriegszeit zu arbeiten begann. Eine Zeit, die sich als "miracolo economico", als Wirtschaftswunder, erweisen sollte und in der das einst weitgehend agrarisch geprägte Italien zunehmend industrialisiert wurde. Italiens Handel wurde immer globaler und das Land immer mehr zum Inbegriff für hochwertiges zeitgenössisches Produkt- und Industriedesign. Wie wir im Zusammenhang mit der New Yorker Ausstellung "A New Domestic Landscape"des MoMA 1972 feststellen konnten, begannen italienische ArchitektInnen und DesignerInnen zunehmend nicht nur die realisierten Gebäude, Stadträume und deren Kontext zu hinterfragen, sondern auch die Produkte, die sie entwarfen. Die Frage, warum und für wen DesignerInnen Objekte entwarfen, rückte in den Mittelpunkt.
Antworten auf diese Fragen fanden sich im weitesten Sinne in Strömungen und Begriffen wie Anti-Design, Radikalismus, Memphis und Postmoderne. Die Debatten über das "Was, Warum und Für Wen" wurden regelmäßig und heftig auf den Seiten der italienischen Architekturzeitschriften geführt. Dazu gehörte auch Casabella, für die Gae Aulenti zwischen 1955 und 1965 unter der Leitung von Ernesto Nathan Rogers, einem führenden Vertreter der so genannten Neoliberty-Bewegung, als Redakteurin arbeitete. Neoliberty (eine wahrscheinlich ungenaue Verallgemeinerung) stand im Kontext von Architektur und Design für die Abkehr von vielen Lehren der Zwischenkriegsmoderne, für eine Abkehr vom "Razionalismo" und für eine Rückkehr zu historischen Prinzipien, Ansätzen und Ästhetiken. Dazu gehörten formale und dekorative Auffassungen des späten 19.Jahrhunderts und Vorbilder wie Mackintosh Baronial, Lloyd Wright Prairie oder Berlage Dutch Brick.
1964 wurde Ernesto Nathan Rogers zum Professor am Polytechnikum in Mailand ernannt. Gae Aulenti blieb bis zu seinem Tod 1969 seine Assistentin. In dieser Zeit war sie nicht nur Vizepräsidentin des italienischen Verbands für Industriedesign (ADI), sondern begann auch, immer größere Aufträge zu übernehmen. So gestaltete sie 1964 die italienische Sektion der Triennale in Mailand, entwarf Showrooms und Messestände für Fiat und entwarf die Inneneinrichtung der Olivetti-Showrooms in Paris und Buenos Aires. Schließlich wurde sie als einzige Frau eingeladen3, eine Installation für die Sektion "Environments" der Ausstellung "A New Domestic Landscape" beizusteuern. Für diesen Anlass realisierte sie einen Wohnraum, der, wenn wir es richtig verstehen, dazu bestimmt war, sich zu entwickeln, d.h. seine Funktionalität erst durch den Gebrauch zu entwickeln, anstatt mit einer vordefinierten Funktion ausgestattet zu sein. Gae Aulenti selbst hat dies im Katalog festgehalten: Ein Raum, "der aus Elementen besteht, die so zusammengesetzt sind, dass sie stets ihren ursprünglichen Zweck erkennen lassen, dabei aber offen bleiben für die Bestimmung ihrer zukünftigen Funktionen"4.
In den 1970er Jahren widmete sich Gae Aulenti, vor allem in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Luca Ronconi, verstärkt dem Theater- und Bühnenbild, schuf aber auch zahlreiche Szenografien für die Mailänder Scala, bevor sie 1980 den Architekturauftrag erhielt, für den sie heute am bekanntesten ist: den Umbau des Gare d'Orsay zum Musée d'Orsay in Paris. Bei diesem Umbau bewahrte sie einen Großteil der ursprünglichen Architektur und Details und verwandelte den Bahnhof des 20. Jahrhunderts durch eine Reihe subtiler und manchmal minimaler Eingriffe in ein Museum des 21. Das Musée d'Orsay markierte in vielerlei Hinsicht auch den internationalen Durchbruch von Gae Aulenti als Architektin. In den folgenden drei Jahrzehnten realisierte sie so unterschiedliche Projekte wie den Umbau des Palau Nacional zum Museu Nacional d'Art de Catalunya in Barcelona, die Restaurierung des Palazzo Grassi in Venedig, den Bau des Italienischen Kulturinstituts in Tokio und die Erweiterung des internationalen Flughafens San Francesco d'Assisi in Perugia. Gae Aulenti ist am 31. Oktober 2012 im Alter von 84 Jahren in Mailand verstorben.
Die ersten Möbelentwürfe von Gae Aulenti wurden im Rahmen der Ausstellung "Nuovi disegni per il mobile italiano" (Neue Entwürfe für das italienische Mobiliar) gezeigt, die im März 1960 im L'Osservatore delle arti industriali in Mailand stattfand. Es handelte sich um eine Ausstellung, die ganz im Zeichen der Neoliberty-Bewegung stand und die, wie es im Ausstellungskatalog heißt, weder als "informativer Bericht über die Arbeit der jüngeren Generationen italienischer Architekten noch als Manifest einer neuen Tendenz" gedacht war. Vielmehr sollte ein Objektverständnis jenseits der "vermeintlich eindeutigen, von Gegensätzen geprägten Realität, in die Objekte durch ihre Unterwerfung unter die Logik von Funktion und Form geraten5 propagiert werden. Im Zentrum standen eine differenzierte, nuancierte Betrachtung von Objekten, Formen und Funktionen und die Werke von rund 30 meist jungen ArchitektInnen, die, obwohl alle mehr oder weniger AnhängerInnen von Neoliberty waren, später, wie Mathias Listl formuliert, "sehr unterschiedliche Wege"6 gingen. Unter ihnen Giotto Stoppino, Aldo Rossi, Umberto Riva und Donnato d'Urbino.
1962 brachte der Hersteller Poltronova die ersten kommerziellen Möbelentwürfe von Gae Aulenti auf den Markt: den Schaukelstuhl Sgarsul und die Stuhl- und Sofafamilie Stringa. Es handelt sich dabei um Arbeiten, die weniger „Neoliberty“ sind und die man eher, um es noch einmal zu verallgemeinern, als Neuinterpretationen, als Neuinterpretationen bestehender Objekte und Prinzipien verstehen kann. Gae Aulenti stand mit diesen Arbeiten also für eine Evolution der Objekte und Prinzipien, ganz im Gegensatz zu der Revolution, die viele ihrer italienischen Zeitgenossen Anfang der 60er Jahre propagierten und in die Tat umsetzten. Ein Ansatz, der sich nicht nur in vielerlei Hinsicht im Kontext des Umbaus des Musée d'Orsay und in zahlreichen anderen Architekturprojekten Aulentis wiederfindet, sondern auch in einem Möbeldesign, das eine Generation zuvor von einem Edward J. Wormley praktiziert wurde und heute regelmäßig in den Werken etwa von Konstantin Grcic oder Jasper Morrison verkörpert wird.
Dieser Designansatz wurde durch die Stringa-Kollektion und in "Ein kreatives Universum" durch ein zweisitziges Sofa sehr gut repräsentiert. Es handelt sich um ein Werk, das in vielerlei Hinsicht von den voluminösen Polstern ausgeht, die Le Corbusier, Pierre Jeanneret und Charlotte Perriand auf das starre Stahlrohr eines Marcel Breuer oder Mart Stam applizierten. Stringa geht jedoch einen Schritt weiter, lockert die Konturen auf und befreit das Objekt von der dogmatischen Quadratur des Modernismus. So bewahrt das Sofa seine äußere Formalität und unerschütterliche Eleganz, lädt aber auch zum Faulenzen und Lümmeln ein. Dafür sorgen vor allem die tiefe Sitzfläche und die kurze Rückenlehne, die durch die geschwungenen Armlehnen elegant kontrastiert werden. Obwohl das Sofa in vielerlei Hinsicht als ein Werk der frühen 1960er Jahre zu erkennen ist, könnte es auch aus dem 19. oder sogar 21. Jahrhundert stammen.
Ebenso verdankt sich der fröhlich monumentale Schaukelstuhl Sgarsul den Bugholz-Schaukelstühlen von Thonet aus dem späten 19. Jahrhundert. In der Ausstellung führte der Blick durch das Schaukelgestell des Sgarsul direkt an zahlreichen Arbeiten von Alvar Aalto vorbei. Hier wurde deutlich, dass Sgarsuls leichter, klar artikulierter formaler Ausdruck eine Mischung aus der Grammatik Thonets und Aaltos ist. Das Vokabular ist mit einem Hauch von Adolf Loos angereichert, nicht unpassend, wenn man bedenkt, dass auch Loos ein Verfechter der Evolution und nicht der Revolution war. Von ihm hat Aulenti unverkennbar die großen Polsterrollen des immer noch unverschämten Liegestuhls namens Knieschwimmer von 1906 entlehnt. Gleichzeitig wird das Werk in die soziale und kulturelle Atmosphäre der 1960er Jahre versetzt, indem die klassische Polsterung des Knieschwimmers und das Rohrgeflecht des Thonet-Schaukelstuhls durch eine frei hängende Matte ersetzt werden.
Dieser informelle Aspekt, der auf die hängemattenartige Konstruktion zurückgeht, wird bei Aulentis Locus Solus Sessel von 1964 noch deutlicher.
Der Sessel Locus Solus ist Teil einer von Poltronova herausgegebenen Kollektion von Gartenmöbeln. Er verdankt sich nicht nur Alfred Loos, Thonet und dem Stahlrohr der Zwischenkriegszeit, sondern greift auch Entwicklungen und Weiterentwicklungen des Liegestuhls auf, die sich beispielsweise bereits im Lido Stuhl von Battista & Gino Giudici aus dem Jahr 1935 nachvollziehen lassen. Der Lido Sessel wurde daher auch in der Ausstellung in der Nähe des Locus Solus präsentiert. Mit dem Locus Solus ist es Aulenti gelungen, ein sehr viel häuslicheres, zivileres, aber nicht weniger freies und leichtes Objekt zu schaffen. Eine Freiheit und Leichtigkeit, die nicht zuletzt der Pop-Art-Polsterung und dem farbigen Stahlrohr zu verdanken ist.
Für die Indoor-Versionen einiger Locus Solus Stühle und Tische wurden die Pop-Art-Polsterung und die farbenfrohen Stahlrohre von Zanotta durch monochrome Polsterung und verchromte Rohre ersetzt. Diese Zanotta-Versionen hätten wahrscheinlich die Zustimmung von Adolf Loos gefunden, aber für uns fehlt ihnen die Persönlichkeit der Poltronova-Version.
Auf jeden Fall fehlt ihnen die Ausgelassenheit und der Humor, der beim Sessel Locus Solus durch den reizvollen Knick in den hinteren Beinen noch verstärkt wird. Ein Knick, der wichtig ist, um die nötige Stabilität und den erforderlichen Sitzwinkel zu ermöglichen, der aber auch den Eindruck erweckt, dass das Stahlrohrgestell ein wenig zu straff sitzt. Es ist genau diese Verspieltheit und dieser Humor, die in Aulentis Werk immer wieder auftauchen, wenn auch nicht durchgängig.
Das ist nicht verwunderlich, denn Humor, Ausgelassenheit und Charakter sind regelmäßig wiederkehrende Aspekte des italienischen Designs der 1960er, 1970er und 1980er Jahre. Die Ursprünge dieser besonderen Facetten des Nachkriegsdesigns in Italien fasst Ettore Sottsass sehr treffend zusammen: "Als ich jung war, hörten wir immer nur von Funktionalismus, Funktionalismus, Funktionalismus. Das ist nicht genug. Design sollte auch sinnlich und aufregend sein".7 Diese Position weist deutliche Parallelen zu den Ansichten der Neoliberty-Bewegung auf. Humor, Überschwang und Charakter werden von Gae Aulenti jedoch selten so provokativ und direkt eingesetzt, wie es etwa bei Ettore Sottsass oder Alessandro Mendini der Fall war. Vielmehr hält sie den Humor im Hintergrund, er wird zu einem viel subtileren Element ihrer Kompositionen, das, anstatt eine Aussage zu machen, dazu beiträgt, ihren Werken eine Leichtigkeit zu verleihen, die sie davor bewahrt, sich selbst zu ernst zu nehmen, sie von jedem Irrglauben an ihre eigene Bedeutung befreit und es ihnen so ermöglicht, sich in eine Vielzahl von Räumen zu integrieren. Dieser Aspekt spiegelt sich nicht nur in den zu engen Verstrebungen des Sessels Locus Solus wider, sondern beispielsweise auch in dem Wort TOAST auf der Vorderseite ihres Toasters für Trabo von 1996.
Die Leichtigkeit, mit der Aulenti Bezüge herstellt, setzt sich in vielerlei Hinsicht auch in ihrem Flirt mit dem Surrealismus fort, einem Strang ihres Werks, der in "Ein kreatives Universum" vielleicht am besten durch Tavolo con ruote für Fontana Arte aus dem Jahr 1980 illustriert wurde Es handelt sich um einen Tisch, der von den Sperrholzwagen inspiriert ist, die in der Fabrik von Fontana Arte zum Transport der Glasplatten verwendet wurden. Aulenti ersetzte das Sperrholz durch die Glasplatten selbst und schuf so mühelos einen hübschen und sehr raffinierten Beistelltisch. Ein Readymade, auf das sich bis heute unzählige studentische Entwürfe beziehen und das Aulenti selbst mit ihrem Tisch Tour von 1993 wieder aufgreifen sollte. Hier ersetzte sie die Wagenrollen durch Fahrradräder.
Ein etwas weniger liebenswertes, aber nicht minder inspirierendes Readymade-Objekt ist Aulentis Vase Riccio, die 2003 im Rahmen einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Murano-Glashersteller Venini entstand. Eine Vase, die ihren Namen vielleicht zu Ehren des Igels Riccio erhalten hat, die aber auch sehr erschreckend an SARS-CoV-2.888 erinnert und eine nicht unpoetische Erinnerung an die Zerbrechlichkeit unseres Planeten darstellt.
Die Ausstellung "Ein kreatives Universum" nahm die BesucherInnen mit auf einen mehr oder weniger chronologischen Rundgang durch das Produkt-, Beleuchtungs- und Möbeldesign von Gae Aulenti und lädt so dazu ein, nicht nur ihr Werk, sondern auch dessen breiteren Kontext besser kennen zu lernen. Dabei geht es vor allem um das Zusammenspiel der verschiedenen Galaxien und Sterne, die dieses "kreative Universum" ausmachen. Viele ihrer Produkt- und Möbeldesignprojekte sind im Rahmen von Architektur-, Interieur- und Theateraufträgen entstanden, wie zum Beispiel der Sessel 4794 aus spritzgegossenem Polyurethan von Kartell. Ursprünglich wurde der Sessel für die Ausstellungsräume von Fiat entworfen. Wie Stringa zelebriert auch 4794 die Kunst des Sitzens. Der Stuhl Rossini aus Holz und Metall wurde 1984 für das Bühnenbild von Aulenti für Ronconis Inszenierung von Rossinis Oper "Reise nach Reims" entworfen und später von Maxalto/B&B Italia übernommen. Die Leuchten King Sun und Pipistrello wiederum wurden für die Ausstellungsräume von Olivetti in Buenos Aires bzw. Paris entworfen.
Die erste spielt mit den lichtdurchlässigen Eigenschaften von Acrylglas, ein einfaches, futuristisches Objekt mit einem Lampenschirm, der eigentlich keiner ist. Die zweite, die Leuchte Pipistrello, ist wahrscheinlich eines der am stärksten on Neoliberty geprägten Werke Aulentis. Ähnlich wie Poul Henningsen mit seinen PH-Lampen aus den 1920er Jahren eine idealisierte Darstellung historischer Leuchtendesigns in seine Arbeiten einfließen ließ, verfuhr Aulenti mit Pipistrello. Die Leuchte könnte aus einem früheren Jahrhundert stammen, aber sie tut es definitiv nicht. Sie ist gefährlich Art Déco, aber zu raffiniert, um dieser dekadenten Versuchung zu erliegen. Eine Leuchte, die neben ihren formalen Reizen auch noch ausziehbar ist: Ursprünglich sollte sie eine Höhe von 64 cm bis 130 cm haben. Heute lässt sie sich von 66 cm auf 86 cm ausziehen und kann so in den unterschiedlichsten Situationen eingesetzt werden. Die Lampe Pipistrello ist somit ein Werk, das ganz Aulentis Vorstellung von Funktionalität entspricht, die alles andere als starr und vorgegeben war. Das einzige Problem, das wir mit dem Pipistrello haben, ist ihr Name. Pipistrello ist das italienische Wort für Fledermaus. Aber die Leuchte erinnert uns eher an den Kopf der Medusa oder an eine Qualle.
Die Pipistrello bringt uns natürlich wieder zu Riccio. Also schnell weiter im Text...
Unter den zahlreichen Höhepunkten der Ausstellung "Ein kreatives Universum" war die Vielfalt der ausgestellten Arbeiten zweifellos der größte. Um ehrlich zu sein, hatten wir nicht mit einer so vielfältigen und abwechslungsreichen Präsentation gerechnet, die neben Leuchten und Möbeln auch Wohnaccessoires und Dekorationsobjekte umfasst.
In dieser Vielfalt hat uns besonders Giova aus dem Jahr 1964 für Fontana Arte angesprochen. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus Leuchte, Leinwand und Skulptur, deren Hauptmerkmal ihr Maßstab ist: Sie ist riesig und kann daher nur als dominierendes Objekt in einem bestimmten Raum wirken. Aber nicht in einem bösartig überwältigenden Sinn, denn dafür ist sie viel zu ruhig und zurückhaltend. Patroclo von Artemide aus dem Jahr 1975 ist eine Leuchte, die nicht nur den Namen des griechischen Kriegers und besten Freundes von Achilles trägt, sondern auch in ihrer wulstigen Form an einen muskulösen menschlichen Oberkörper erinnert. Dieser Oberkörper eines stereotypen griechischen Kriegers steckt jedoch nicht in der undurchdringlichen Rüstung des Achilles, sondern in einem Drahtgeflecht, in das Glas geblasen wurde, das dem Werk seinen subtilen Reiz und einen fesselnden Glanz verleiht, der sich je nach Position zur Lampe wunderbar verändert.
Dann gibt es noch das Objekt Rimorchiatore, das die Kuratoren als "eine Mischung aus Lampe, Vase und Aschenbecher" beschreiben. Und welche Wohnung könnte ein solches Multifunktionsobjekt nicht gut gebrauchen? Wie wir auf im smow Journal schon oft festgestellt haben, waren Aschenbecher früher ein Genre, das DesignerInnen einfach berücksichtigen und integrieren mussten. Heute ist das natürlich weniger der Fall. Aber vielleicht könnte der Rimorchiatore als Hybrid aus Lampe, Vase und Telefonladegerät für den Nachttisch wiederbelebt werden? Auf jeden Fall handelt es sich um ein Werk, dessen Formen und Volumina sehr gut durchdacht sind und das uns das Verständnis und die Sorgfalt vor Augen führt, mit denen Aulenti die verschiedenen Komponenten einer Komposition ausbalanciert hat, ohne sie notwendigerweise vollständig miteinander zu verbinden. Dieses Verständnis bedeutete in der Regel keine unflexiblen quadratischen Formen, auch wenn die zurückhaltende Monumentalität des Marmortisches Jumbo für Knoll von 1965 zeigt, dass Aulenti auch diese Formen verstand.
"Ein kreatives Universum" präsentierte neben Aulentis Arbeiten eine Sammlung von Entwürfen, Skizzen und Fotografien sowie Video-Interviews mit Gae Aulenti und bietet so eine kurze, aber informative und lehrreiche Einführung in die gestalterischen Ansätze und das Verständnis von Gae Aulenti. Es wird deutlich, wie die Designerin dieses Verständnis und diese Ansätze in Objekte übersetzt hat, deren schlichte, einfache Eleganz fast immer auf einer sehr methodischen, detaillierten Entwicklung und Komplexität beruht. Vor allem aber forderte diese Einführung die AusstellungsbesucherInnen auf, selbst weiter zu recherchieren und tiefer einzutauchen in jenes gestalterische Universum, von dem hier nur ein flüchtiger Ausschnitt geboten wird.
Wie immer bei Ausstellungen im Vitra Design Museum Schaudepot wurde diese Recherche durch das Präsentationskonzept des Schaudepots unterstützt: Umgeben von einem Jahrhundert Möbeldesigngeschichte bot die Ausstellung nicht nur die Möglichkeit, sich dem Werk Gae Aulentis zu nähern, sondern auch Antworten auf die Frage zu finden, wie sich Gae Aulentis Entwürfe, Ansätze und Ideen in den größeren Kontext des Designs einfügen.
"Gae Aulenti. Ein kreatives Universum" lief bis Sonntag, den 18. April im Vitra Design Museum Schaudepot, Charles-Eames-Str. 2, 79576 Weil am Rhein.
1Carol Vogel, The Aulenti Uproar: Europe's Controversial Architect, New York Times, 22. November 1987
3Unter den 12 Installationen, stammten 3 von Kollektiven - Superstudio, Gruppo Strum, Archizoom - zu letzerem gehörte Lucia Bartolini und damit die einzige weitere Frau in der Sektion Environments.
5Nuovi disegni per il mobile italiano, 14-27th March 1960, Catalogue, quoted in Renato de Fusco, Made in Italy: Storia del design italiano. Nuova edizione, Altralinea, Florence, 2014
6Mathias Listl, Gegenentwürfe zur Moderne: Paradigmenwechsel in Architektur und Design 1945-1975, Böhlau, Köln, 2014
7Man findet dieses Zitat überall, aber immer ohne Quelle. Wir sind noch auf der Suche nach seinem Ursprung....
82003, das Jahr in dem Riccio entstand, war das Jahr der ersten SARS Pandemie. Wir behaupten nicht Gae Aulenti habe sich auf einen Corona Virus bezogen, die Ähnlichkeiten sind allerdings nicht zu übersehen.