„Was der August nicht tut, macht der September gut.“1 hieß es einst bei Johann Wolfgang Goethe.
Und so verabscheuungswürdig es auch sein mag, wir müssen Goethe widersprechen. Er hat Unrecht. Mag sein, dass man sich im August etwas mehr Freiheiten herausnehmen kann als den Rest des Jahres. Das, was wir Leben nennen, schließt jedoch die Handlungen, Erfahrungen und Emotionen eines jeden Monats ein. Und da die Monate aufeinander aufbauen, ist ein Monat der Untätigkeit ein Monat der verpassten Momente. Darauf zu hoffen, dass der September die Laxheit des Augusts wieder wettmacht, ist Wunschdenken.
Ignorieren Sie also ausnahmsweise Goethe und nutzen Sie den August klug und als Chance, vorab schon mal mehr aus dem September und den Folgemonaten herauszuholen. Unsere fünf Empfehlungen für sinnvolle Dinge im August 2020 (mal abgesehen von regelmäßigem Händewaschen und einem respektvollen Umgang mit Ihren Mitmenschen) führen nach Tallinn, Brüssel, Malmö, Amsterdam und Berlin. Wie immer in diesen schwierigen Zeiten sollten Sie sich vor dem Ausstellungsbesuch mit den aktuellen Regeln und Abläufen bezüglich Eintrittskarten, Sicherheit, Hygiene usw. vertraut machen. Während des Ausstellungsbesuchs gilt es verantwortungsbewusst und vor allem neugierig zu bleiben.
„Leisure spaces. Holidays and Architecture in 20th Century Estonia“ im Estonian Museum of Architecture Tallinn, Estland
Der August ist Ferienzeit und damit ein guter Zeitpunkt um über Urlaub nachzudenken. Über die Geschichte der Ferien, die als Massenphänomen eine relativ neue Erscheinung sind. Dabei handelt es sich natürlich nur um einen Teil der Gesellschaft, der das Glück hat gesetzlichen Urlaub zu haben und über die Mittel verfügt diesen auch zu genießen. Es gibt eine viel größere Masse, die ohne Urlaub und Mittel auskommen muss.
Auffällig ist vor allem, wie fest sich die Ferien in relativ kurzer Zeit im kulturellen Gefüge der Gesellschaft etabliert haben. Sie haben nicht nur Traditionen und Rituale hervorgebracht, sondern sind ein wichtiger Teil unserer individuellen Identität geworden, unseres Selbstverständnisses in all seiner Komplexität: Wir sind nicht nur, was wir essen, sondern auch, wie und wo wir Urlaub machen.
Mit einem Schwerpunkt auf Estland in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg und der Geschichte des Urlaubs in Estland wie sie sich anhand der Architektur nachvollziehen lässt, verspricht „Leisure Spaces“, die Ausstellungsbesucher*innen in die estnischen Hotels, Ferienhäuser, Fischerhütten und Campingplätze der Sowjetära zu führen. Darüber hinaus bietet die Ausstellung die Betrachtung des täglichen Lebens im Estland dieser Zeit. Es geht um die Entwicklung von Identität, um Architektur als Bestandteil einer (wahrgenommenen) (erzwungenen) nationalen Identität, um das Individuum als Bestandteil des Staatsapparates. Das Estnische Architekturmuseum zeigt außerdem „herausragende Gebäude“.
„Leisure spaces. Holidays and Architecture in the 20th Century Estonia“ wird am Freitag, den 14. August im Estonian Museum of Architecture, Rotermanni Soolaladu, Ahtri 2, Tallinn 10151 eröffnet und läuft bis Sonntag, den 29. November.
„Belgian Follies“ CIVA Brüssel, Belgien
Wie wir alle wissen, ist Belgien angeblich ein Land voller nicht ganz so hübscher Häuser. Mit seiner Sommerausstellung 2020 erkundet das CIVA Museum Brüssel belgische Bauten, die zwar nicht so hässlich, aber genauso kurios, grotesk und auffallend sind wie jene belgischen Häuser.
2019 inszenierte CIVA mit der Ausstellung „Miscellaneous Folies“ eine Erkundung globaler Kuriositäten. Dabei handelte es sich um jene Belvederes, um jene falschen Ruinen, Miniaturschlösser und Grotten, die zwar eine längere und andauernde Geschichte haben, aber eng mit der Gartengestaltung des 18. und 19. Jahrhunderts verbunden sind. Jene Gebäude, die, um die Ausstellungsorganisator*innen zu paraphrasieren, völlig ohne Funktion sind, aber ihren individuellen raison d’être beanspruchen. Es ging der Ausstellung vor allem darum die Rolle und den Platz genau dieser Kuriositäten in Architektur, Gesellschaft und Kultur zu berücksichtigen.
Mit „Belgian Follies“ verfolgt CIVA ähnliche Untersuchungslinien, wenn auch diesmal mit einem konzentrierten Fokus auf die „Follies“ Belgiens, wie sie anhand von Stichen, Modellen, Büchern und vor allem Fotografien dargestellt und dokumentiert werden. Die Ausstellung verspricht damit nicht nur Erkenntnisse zum Thema Torheit und Antworten auf die Frage, was uns die Torheit lehren kann, sondern bietet auch einen differenzierten Einblick in die Geschichte der belgischen Kultur und Gesellschaft. Ob das Brüsseler Atomium in diesem Zusammenhang einbezogen ist, wissen wir nicht. Wir wären jedenfalls sehr dafür.
„Belgian Follies“ wird am Freitag, den 21. August im CIVA, Rue de l’Ermitage 55, 1050 Brüssel eröffnet und läuft bis Sonntag, den 11. Oktober.
„Define/Refine“ im Form/Design Center Malmö, Schweden
Auch wenn sich die meisten Überlegungen zum Begriff „Internationale Moderne“ auf die „Moderne“ konzentrieren, sollte der Begriff „International“ nicht vernachlässigt werden, sorgt er doch dafür, dass ähnliche Auffassungen der Moderne global angewandt werden und man so von einer orts- und zeitunabhängigen, identischen Moderne ausgeht. Eine Auffassung, die sich als nicht gerade ideal für die Gemeinschaften, denen diese Moderne dienen soll, herausstellt. Was einen allgemeinen Widerstand gegen die Argumente der Zwischenkriegszeit nach sich zieht, ganz unabhängig von der Gültigkeit einzelner Komponenten.
Ein alternativer Ansatz ist der sogenannte Kritische Regionalismus, ein Begriff, der erstmals in den 1980er Jahren geprägt wurde und der, wie der Architekturkritiker Kenneth Frampton argumentiert, eine Strategie darstellt, „den Auswirkungen der globalen Zivilisation Aspekte entgegenzusetzen, die sich indirekt aus den Besonderheiten eines bestimmten Ortes ableiten.“2 Das soll heißen, nicht die (wahrgenommenen) lokalen Formen und Strukturen direkt zu nutzen, sondern diese mit ihrem jeweiligen theoretischen Hintergrund in modernistische Auffassungen und Positionen zu integrieren und sie so zu verbreiten. Wenn man so will, geht es darum ein modernistisches Vokabular mit volkstümlichem Akzent zu etablieren.
Im Rahmen von „Define/Refine“ wurden fünf Teams aus Architekt*innen, Landschaftsarchitekt*innen, Planer*innen und verschiedenen Fachleuten damit beauftragt, Ideen des Kritischen Regionalismus im Kontext Südschwedens, wichtig sowohl für das städtische als auch für das ländliche Südschweden, zu untersuchen und auf diese Weise eine Debatte über die Beziehung zwischen Architektur und Identität anzuregen. Eine Debatte, die seit Generationen geführt wird, jedoch immer im Kontext der jeweiligen Zeit, und die sich daher immer weiterentwickelt und zu der wir alle beitragen sollten. Schließlich geht es um Fragen, die die Umwelt(en), in denen wir leben, arbeiten und funktionieren sollen betreffen. Und wollen wir diese Entscheidungen wirklich allein den Architekt*innen überlassen?
Auch wenn „Define/Refine“ sich in hohem Maße mit Südschweden auseinandersetzt, sind viele der Themen „international“. Daher sollten auch viele Ergebnisse der Projekte indirekt auf andere Regionen übertragbar sein.
„Define/Refine“ wird am Donnerstag, den 27. August im Form/Design Center, Lilla Torg 9, 203 14 Malmö eröffnet und läuft bis Sonntag, den 15. November.
„From Thonet to ‚Dutch Design‘. 125 Years of Living at The Stedelijk“ im Stedelijk Museum Amsterdam, Niederlande
Obwohl die meisten Menschen die Geschichte des Möbeldesigns als lineare, chronologische Abfolge verstehen, ist dies nicht der Fall. Eine Tatsache, die deutlich wird, wenn man versucht, eine Linie von Thonet zum Dutch Design zu ziehen und die hoffentlich auch in der Ausstellung „From Thonet to „Dutch Design“ deutlich wird. Dabei handelt es sich um eine Ausstellung, die von einer Thonet Liege namens Nr. 4 aus der Zeit um 1850 ausgeht und nicht chronologisch, sondern thematisch über Themen wie Kinderdesign, Nachhaltigkeit oder soziales Design voranschreitet. Die Ausstellung endet, wenn das der richtige Ausdruck ist, mit Projekten, die niederländische Designer*innen als Reaktion auf die Corona-Pandemie realisiert haben. „Dutch Design“ also, würden wir mal annehmen, dass ganz anders ist als das spielerische, freche Dutch Design der 1990er Jahre.
Die Ausstellung verspricht eine Präsentation von rund 300 Werken aus der eigenen Sammlung des Museums von so unterschiedlichen Designer*innen wie Charlotte Perriand, Verner Panton, Nanna Ditzel, Ettore Sottsass oder Enzo Mari. „From Thonet to ‚Dutch Design'“ verspricht darüber hinaus einen prägnanten Rückblick auf ein Jahrhundert und ein Stück niederländische Möbeldesigngeschichte: Angefangen bei der Amsterdamer Schule des frühen 20. Jahrhunderts bis hin zu so unterschiedlichen Protagonist*innen wie Gerrit Rietveld, Hella Jongerius, Richard Hutten, Ineke Hans und Piet Hein Eek.
„From Thonet to ‚Dutch Design‘. 125 Years of Living at The Stedelijk“ wird am Samstag, den 25. Juli im Stedelijk Museum, Museumplein 10, 1071 DJ Amsterdam eröffnet und läuft bis Sonntag, den 21. März.
„Down to Earth“ im Gropius Bau Berlin
Dem englischen Titel von Bruno Latours 2017 erschienenem Essay „Down to Earth“ entlehnt, ist „Down to Earth“ im Gropius Bau, wenn wir es richtig verstanden haben, ein Versuch, sich einem Verständnis unseres Planeten als Partner innerhalb traditionell bilateralen Diskussionen über Politik, Wirtschaft, Technologie etc. anzunähern. Es geht also darum solche bilateralen Diskurse trilateral zu gestalten und so Raum für neue, sinnvolle Lösungen zu schaffen. Nicht zuletzt für neue Lösungen in unserer anhaltenden klimatischen Notlage.
Zu diesem Zweck umfasst „Down to Earth“ neben einer Reihe von analogen Workshops, Diskussionen und Konzerten auch eine Ausstellung von Kunstprojekten, die auf unterschiedliche Weise dazu einladen nicht nur über unsere gegenwärtigen, sondern auch über mögliche zukünftige Beziehungen zu unserem Planeten differenziert nachzudenken. Auch auf die Frage nach der Rolle der musealen Ausstellung in unserer andauernden Klimakrise versucht „Down to Earth“ einzugehen: Anstatt einer Inszenierung in perfekt klimatisierter musealer Umgebung planen die Kurator*innen von „Down to Earth“ die Fenster zu öffnen und so einen physischen und symbolischen Hauch frische Luft in den Ausstellungsraum und die Institution zu lassen. Genau diesen frischen Wind könnten wir gut gebrauchen, vor allem alle Designer*innen und Architekt*innen.
„Down to Earth“ wird am Donnerstag, den 13. August im Gropius Bau, Niederkirchnerstraße 7, 10963 Berlin eröffnet und läuft bis Sonntag, den 13. September.
1. In ein Stammbuch, in Goethe. Gedichte. Vollständige Ausgabe, J. G. Cotta, Stuttgart, page 1013
2. Kenneth Frampton, Towards a Critical Regionalism: six Points for an Architecture of Resistance in Hal Foster, The anti-aesthetic: essays on postmodern culture, New Press, New York 1998