Abgesehen von der unvermeidlichen Verdichtung bereits realisierter Projekte war das Hauptthema der Mailänder Möbelmesse 2019 der wachsende Datenhunger der internationalen Möbelindustrie. Ein Thema, das uns sehr viel intensiver beschäftigt hat, als die Präsentationen der Stände. Dieser Datenhunger hat sich in Mailand 2019 in einem exponentiellen Anstieg der Hersteller niedergeschlagen, die potenzielle Standbesucher entweder vorab registrieren oder das Messeticket scannen wollten bzw. eine Visitenkarte verlangten, bevor man auf den Stand gelassen wurde. Allerdings ist hier weder Zeit noch Raum sich länger darüber aufzuregen. Wir werden jedoch später darauf zurückkommen, nicht zuletzt, weil das Ausmaß der Entwicklungen, die wir in Mailand 2019 erlebt haben, darauf hindeutet, dass sich neue Normen etablieren werden, und das ist nicht gut so.
Ansonsten waren die Mailänder Messehallen 2019 belebter und das Wetter kühler als in den Jahren zuvor. Verzweiflung und Freude standen allerdings so nah beieinander wie jedes Jahr. Uns mögen ein, zwei Juwelen entgangen sein, weil wir uns entschieden haben unsere Daten nicht weiterzugeben, was letztendlich dazu geführt hat, dass wir nicht an allzu vielen Ständen waren. In diesem Sinne also unsere smow High Five der Mailänder Möbelmesse 2019!
Land von Naoto Fukasawa für Plank
Land wurde von Plank erstmals in Mailand 2018 vorgestellt und dürfte daher im Grunde genommen hier nicht zugelassen sein. Weil unsere High Five im vergangenen Jahr den Plank Cup Stuhl von Konstantin Grcic enthielten, konnten wir Land allerdings nicht vorstellen. Außerdem wurde Land 2019 als gepolsterte Textilversion präsentiert. Im Vergleich zur Vollkunststoffversion von 2018 handelt es sich praktisch um einen neuen Stuhl. Abgesehen davon gefällt uns Land zurzeit so gut, dass wir nicht genug von ihm bekommen können. Der gepolsterte Land würde in einem Pierre-Paulin- oder einem Verner-Panton-Archiv wahrscheinlich nicht besonders auffallen. Der Sessel verströmt ein Selbstvertrauen, eine Selbstverständlichkeit, die ihm Autonomie gegenüber dem herkömmlichen, ziemlich eingeschränkten Möbeldesignvokabular verleiht.
Das auf einem mit Polyurethanschaum gepolsterten Stahlrahmen basierende Objekt Land ist ein äußerst komfortables und einladendes Objekt und ein Werk voller Widersprüche. Das jedoch in einem ganz positiven Sinne: Der Sessel verfügt über eine Ambivalenz, die es ihm ermöglicht, mehr als die Summe seiner Teile zu sein; imposant und doch zurückhaltend, monumental und doch raffiniert. Ein Werk, das an einen Thron erinnert, einem aber nicht das Gefühl gibt ein Machthaber zu sein. Die Freiheit, die Land gewährt, lässt den Nutzer zur Unschuld der Kindheit und dem Wunsch, zu erforschen und zu entdecken zurückkehren.
Land ist nicht unbedingt ein Wohnzimmerstuhl. Es sei denn im richtigen Wohnzimmer, zum Beispiel in einer Berliner Altbauwohnung mit mehr als 3 Meter Deckenhöhe. In einer solchen Umgebung wäre es nämlich egal, ob man sich entscheidet darin zu sitzen oder Land einfach als dekoratives Element zu verwenden. Besonders gut vorstellen können wir uns den Sessel in einer Einzelhandelsumgebung, einer Hotellobby oder in Büros, sei es als Sitzgelegenheit in einem öffentlichem Empfangsbereich oder im Arbeitsbereich. Ein ganzer Kreis von Land Sesseln könnte wiederum wunderbar als informeller Diskussionsraum fungieren, der sich mühelos in jedes moderne System einfügt und zudem die akustischen Vorteile großer textiler Objekte mitbringt.
Die Kunststoffversion hingegen schreit danach im Freien eingesetzt zu werden. Und auch wenn es nicht so aussehen mag, die körperliche Reduktion des Objektes sorgt dafür, dass sich der Land aus Kunststoff auch auf sehr begrenztem Raum problemlos einfügt.
Pinzo von David Ericsson für Blå Station
Pinzo hat uns in mehrfacher Hinsicht den Tag gerettet, was aber nicht der Grund dafür ist, dass er in dieser Liste auftaucht. Um ehrlich zu sein hatten wir keine gute Zeit auf der Mailänder Möbelmesse. Wir haben begonnen den Sinn der Messe und auch den Sinn dieses Posts in Frage zu stellen, bis wir völlig unvorbereitet über Pinzo gestolpert sind.
Hergestellt wird Pinzo aus Kiefernholz, was die ersten drei Buchstaben des Namens erklärt. Die letzten beiden sind ein Hinweis auf Enzo Mari, der als Pate des Werkes angesehen werden kann. Pinzo ist ein reduzierter und zurückhaltender Monolith, ein Objekt mit einer sehr realen Präsenz. Pinzo ist jedoch viel zu zurückhaltend und respektvoll um dominant zu erscheinen. Diese zurückhaltende Seite spiegelt sich in seiner Materialität wider: Aus Pinienholz gefertigt, ist Pinzo solide und stabil, aber nicht unbeweglich, geschweige denn unnachgiebig. Der Griff am hinteren Ende des Sitzes erleichtert den Transport und würde bei zukünftigen (potentiellen) Outdoor-Versionen das Ablaufen von Wasser ermöglichen.
Bei der Gestaltung von Sitz und Rückenlehne ist die einzige wirkliche Formgebung eine leichte Fräsung, die nicht nur den Sitzkomfort unterstützt und fördert, sondern vor allem die quadratische Form durchbricht und so ein wenig visuelle Spannung erzeugt und verhindert, dass Pinzo zum monotonen Monolithen wird.
Sauber proportioniert, ausgewogen, zufriedenstellend geneigt und bequem; einzig unsere Gedanken an Mailand 2018 und den Fugu von Jasper Morrison für Maruni könnten die Sache etwas trüben … . Doch nach langer und eingehender Betrachtung der beiden Objekte, und auf die Gefahr hin, wie ein Arthur Mehlstäubler zu klingen, der Egon Eiermann verteidigt, sind Pinzo und Fuga zwei grundlegend unterschiedliche Werke.
Sie mögen eine gewisse formale Ähnlichkeit haben, Pinzo ist aber ein viel raueres, brutaleres, wenn auch ebenso raffiniertes Objekt und auch in Bezug auf ihr Selbstverständnis und vor allem die Atmosphäre handelt es sich um zwei sehr unterschiedliche Werke.
Adaptive Cabinet von Pang Lok Man, Hong Kong Design Institute
Eines der problematischsten Wohnmöbel ist ohne Frage der Schuhschrank bzw. das Schuhregal. Es handelt sich dabei um ein sinnvolles Objekt, das aber allzu oft wie eine Notlösung, oder nach leicht dekadenter Nutzung wertvollen Wohnraums aussieht. Der Wert des Adaptive Cabinet des Studenten Pang Lok Man vom Hong Kong Design Institute, HKDI, liegt darin, dass genau das verhindert wird.
Adaptive Cabinet wurde im Rahmen des Projekts Co-Senior + des HKDI Advanced Design Studios entwickelt, das sich mit Fragen rund um eine immer älter werdende Bevölkerung beschäftigte und zukunftsorientierte integrierte Co-Living-Lösungen suchte. Für uns ist es ein viel universelleres Werk, das über das Thema des Projektes hinausgeht. Und das, so würden wir argumentieren, wird durch nichts Komplizierteres als einen Hocker erreicht.
Schuhablagen, auf denen man sitzen kann, sind nicht neu. Indem Pang Lok Man aber den Hocker in den Schrank integriert hat und dieser so nur präsent ist, wenn er tatsächlich gebraucht wird, hat der Designer ein Konzept entwickelt, dessen Variabilität das Adaptive Cabinet zu einem äußerst funktionalen Flurmöbel macht. Die Freiheit des Adaptive Cabinet erschließt sich vor allem durch den integrierten Stauraum für Schlüssel, Telefone, Briefe, Spazierstöcke, Schirme, Hundeleinen oder eben auch Schuhe. All das in einem ansonsten unauffälligen Flurmöbel. So ist das Adaptive Cabinet sehr viel mehr als nur eine dekadente Schuhregallösung.
Die Form des Objektes gefällt uns zugegebenermaßen nicht besonders gut. Wir würden behaupten, dass hier noch viel Entwicklungsbedarf besteht. Das Konzept ist allerdings sehr verlockend und wir hoffen, Pang Lok Man erhält die Chance das Objekt weiterzuentwickeln.
Nû Chair von Yasmina Makram
Mies van der Rohes Barcelona Chair ist quasi am Strand entstanden: Sergius Rügenberg sitzt in einem Loch im Sand am Strand des Berliner Wannsees, formt das Loch, bis er eine bequeme Sitzposition gefunden hat, und macht es dann zum Sitz. Während der Barcelona Chair aber am Strand nicht wirklich funktionieren würde, ist der Nû Chair der Kairoer Architektin Yasmina Makram ein Sitzplatz für den Strand und funktioniert auch nur dort, da er im Sand einsinken muss um seine Stabilität zu erlangen. Das mag zuerst nach einem Designfehler klingen, aber (a) handelt es sich um einen Stuhl für den Strand, also warum nicht die Art und Weise des Sitzens auf Sand in das Design integrieren und (b) die Notwendigkeit mit der Natur arbeiten zu müssen unterstreicht die Entstehung des Stuhls. Überlegungen zu Beziehungen zwischen Mensch und Natur werden besonders berücksichtigt, da sich der Nutzer mit Hilfe des Stuhls gewissermaßen in die Umwelt einpflanzt.
Nû hat formale Anleihen in zahlreichen volkstümlichen Designtraditionen. Es handelt sich um ein intelligent realisiertes Werk, gefertigt aus einem Sperrholzrahmen mit Sitz und Rückenlehne aus Bambusrohr, das bequemer ist, als man es sich vorstellen kann. In Mailand wurde Nû sowohl in einer, sagen wir mal, einfachen als auch in einer eleganten Version präsentiert, letztere haben wir vergessen zu fotografieren. Der Strandstuhl ist faltbar, das heißt leicht zu transportieren und zu verstauen.
Natürlich ist Nû für jeden städtischen Beachvolleyball-Platz geeignet und kann auch als Gartenstuhl auf jedem Sand-/Lehmboden eingesetzt werden.
On & On von Barber & Osgerby für Emeco
Als wir uns On & On von Barber & Osgerby für Emeco näherten, ging uns als erstes „Portfolio-Füller“ durch den Kopf. Der Hersteller Emeco deutete in ganz leisen Tönen an, dass für das Portfolio ein stapelbarer Mehrzweck-Kunststoffstuhl für den Objektbereich benötigt wird. Wir dachten aber: Emeco hat doch zahlreiche stapelbare Plastikstühle. Nur sind die alle sehr quadratisch, Emeco wollte also offenbar etwas Runderes, Aufrechtes, weniger Formales, das für eine Vielzahl von Einzelhandels- und Gastronomiebereichen verwendet werden kann. Und einen Stuhl, der eine Gegenposition zum Rest des Portfolios darstellt.
Das soll aber nicht davon ablenken, was Barber & Osgerby hier geliefert haben! Barber & Osgerby haben eine majestätische Lösung gefunden und sind im Geiste weit über das Ziel hinausgeschossen. Vor allem haben sie einen Stuhl entwickelt, der es verdient, unabhängig von solchen Überlegungen produziert zu werden.
Überwiegend hergestellt aus recyceltem PET, kommt der On & On mit drei Sitzen: Recyceltes PET, Sperrholz und Textil stehen zur Auswahl. Eine der wahren Freuden des Projekts besteht darin, dass die Sitze einfach angeschraubt werden, das heißt bei Bedarf auch ausgewechselt werden können, wodurch der Stuhl beispielsweise für den Innen- und Außenbereich geeignet ist. Im Innenbereich, zum Beispiel mit Textilsitz, im Außenbereich mit PET und einem kleinen Loch im Sitz, durch das angesammeltes Wasser ablaufen kann.
On & On präsentiert sich formal mit einer angenehmen, aber unbekannten Vertrautheit und erkennt mit einer von einem Thonet 14 geprägten Silhouette und einer Funktionalität, die sich in Richtung eines Alvar Aalto 68 orientiert, das Erbe des Stuhldesigns an.
Intelligent und schön proportioniert, ist On & On physisch sehr präsent. Der Stuhl hat genau die richtige Masse: Es braucht kein Team von Pferden um ihn zu bewegen, andererseits wird er nicht vom Wind verweht und gewährleistet ein sicheres und komfortables Sitzerlebnis. Wenn die On & On Stühle nicht benötigt werden, können sie elegant in der Ecke gestapelt werden. Trotz allem ist der Stuhl auch für den privaten häuslichen Bereich geeignet.