„Das Problem der Errichtung von Wohnungen zu tragbaren Mieten für die mindestbemittelte Schicht der Bevölkerung steht heute im Vordergrund des Interesses in fast allen zivilisierten Ländern“. Mit diesen Worten lud der „Congrès Internationaux d’Architecture Moderne“, kurz CIAM, zu seinem zweiten Kongress, einem dreitägigen Event ein, das am Donnerstag, den 24.Oktober 1929 im Palmengarten Frankfurt am Main begann, und bei dem einige der führenden Vertreter der Architektur aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen nach potentiellen Lösungen für dieses so drängende Problem suchten. Der Erfolg des Frankfurter Kongresses wird besonders deutlich, wenn man sieht welche Bedeutung einer Einladung heutzutage hat.
Initialisiert von der Schweizer Künstlerin und Schirmherrin Madame Hélène de Mandrot mit dem Ziel führende zeitgenössische Architekten zusammenzubringen, um über ihre Prioritäten und über zukünftige Entwicklungen zu sprechen,1 fand der jedes Jahr stattfindende „Congrès Internationaux d’Architecture Moderne“ (CIAM) erstmals im Juni 1928 im Schloss von La Sarraz in der Schweiz statt. Es nahmen 24 internationale Architekten, darunter Mart Stam, Gerrit Rietveld, Josef Frank und Le Corbusier teil. Letzterer ließ sich nach einiger Überzeugungsarbeit seitens Madame de Mandrots darauf ein, die Agenda des Kongresses zu skizzieren.
Auch wenn das Vorhaben, einen zweiten Kongress in Frankfurt abzuhalten, bereits in La Sarraz beschlossen wurde, wurde der Ort erst durch eine Führungsgruppe festgelegt, die sich am 2. Februar 1929 in Basel traf. Man entschied sich inbesondere für Frankfurt, weil die zu diskutierenden Fragen dort „am praktischen Fall“ diskutiert werden könnten.2 Gemeint war das Projekt Neues Frankfurt, das 1925 von Ernst May initialisiert wurde und damals das wohl umfangreichste funktionalistische soziale Wohnungsbau- und Stadtplanungsprogramm in ganz Europa war. Veranstaltet unter dem Titel „Die Wohnung für das Existenzminimum“ nahmen am Frankfurter CIAM Kongress um die 120 Teilnehmer aus 18 Ländern teil,3 darunter Leute wie Poul Henningsen, Alvar Aalto, Richard Neutra und Farkas Molnár. Die, wie man heute sagen würde, Keynote Speeches wurden von Victor Bougeois, Hans Schmidt, Walter Gropius und Pierre Jeanneret, der einen Text von Le Corbusier vorlas – dieser konnte wegen einer Vorlesungsreihe in Südamerika nicht teilnehmen – , gehalten.
Neben der Konferenz gehörte zum CIAM auch die Ausstellung „Die Wohnung für das Existenzminimum“, die um die 100 Beispiele aus aller Welt für zeitgenössische und bezahlbare Wohnungen präsentierte, darunter beispielsweise amerikanische Hotel-Suiten. Es handelte sich dabei, wie Eugen Kaufmann es formulierte, um die erste Ausstellung, die „das Problem ganz streng herauszuarbeiten bemüht ist, auf dessen Lösung es heute wesentlich ankommt“.4 Zu diesem Zweck wurden alle ausgestellten Projekte im gleichen uniformen Format und zudem anonym präsentiert. Sodass ein tatsächlich objektiver Vergleich der Vorschläge möglich wurde, ohne, dass man vom Ruhm des jeweiligen Architekten oder seinem jeweiligen Präsentationsformat wäre abgelenkt worden. Ein faszinierendes Konzept, dessen Einsatz wir auch heute sehr empfehlen würden. Wenn überhaupt, wurde das Projekt nur leicht durch das Magazin „Das Neue Frankfurt“ torpediert. Jene offizielle Publikation des gleichnamigen Programms druckte nämlich die Namen diverser Architekten direkt neben ihren jeweiligen Vorschlägen ab.
Nachdem die Ausstellung während drei Wochen in Frankfurt von ca. 3000 Gästen besucht wurde, zog sie anschließend weiter nach Warschau, wo sie wie erfasst wurde mehr als 20000 Besucher verzeichnen konnte.5 Danach ging es zumindest planmäßig nach Basel, Zürich, Stuttgart, Munich, Paris, Magdeburg, Kaliningrad, London, Milan, Brno, Prague, Hamburg, Brussels, Essen und Chemnitz weiter.6 Wir sind nicht sicher, wie viele von diesen Präsentationen am Ende tatsächlich stattgefunden haben. Aber ganz abgesehen davon, dass die Intentionen der Ausstellung verbreitet wurden – sollte auch nur die Hälfte der Ausstellungen stattgefunden haben, wäre „Die Wohnung für das Existenzminimum“ eine der weit verbreitetsten Ausstellungen zu diesem Thema im Europa dieser Epoche gewesen.
Die Wohnung für das Existenzminimum war nicht die erste Überlegung dazu, wie man ausreichend bezahlbaren, hygienischen und sicheren Wohnraum schaffen könnte und wird auch nicht die letzte gewesen sein. Vor allem weil viele der grundlegenden Bedingungen gleich geblieben sind, nicht zuletzt der eigentliche Vorgang des Häuser Bauens.
Auf dem CIAM Frankfurt war eines der vorherrschenden Themen zeitgenössische Konstruktionsmethoden, oder wie es der CIAM Vorsitzende Sigfried Giedion in seiner Eröffnungsansprache formulierte: „fast als letztes, großes Produktionsgebiet vollzieht die Architektur den Schritt von der handwerklichen zur industriellen Herstellung. Sie hat dazu vorläufig nicht mehr als die ersten Schritte getan.“7 Wenn heutzutage auch einige weitere, vorsichtige Schritte gemacht worden sein mögen, bleibt der Hausbau doch ein relativ langsamer, manueller Prozess, und deshalb sehr teuer. Neue Konstruktionsmethoden zu entwickeln und/oder neue Materialien, die eine zügigere und kosteneffektivere Hauskonstruktion ermöglichen, wäre auf jeden Fall eine kluge und wichtige Lösung. Genauso aber wäre es wichtig auf die Finanzierung des Wohnungsbaus zu schauen.
Projekte wie das „Neue Frankfurt“ wurden durch die sogenannte Hauszinssteuer möglich gemacht. Eine Steuer, die ab 1924 für alle Privathäuser verhängt wurde. Die Einkünfte aus dieser Steuer wurden dann zweckgebunden an die Konstruktion sozialen, staatlichen Wohnungsbaus eingesetzt. Und genau an diesem Punkt hätte der Frankfurter Kongress den Fokus setzen sollen: „der praktische Fall“ betraf nämlich in mehrfacher Hinsicht nicht den Frankfurter Grundriss, sondern die Frankfurter Finanzierungsmethode. Man sollte also im Rückblick auf das „Neue Frankfurt“ eher darüber nachdenken wie Dinge realisiert wurden anstatt darüber, was realisiert wurde. Nicht, dass wir uns für irgendeine radikale, sozialistische Steuerverordnung einsetzen würden – die Finanzierung des Wohnungsbaus sollte allerdings ebenso innovativ ausfallen wie der Bau selbst. Zudem ist es heute nach wie vor weitestgehend zutreffend, dass solche Untersuchungen die Zukunft des Wohnungsbaus betreffend fast schon exklusiv von Architekten, bzw. gelegentlich von Museen unternommen werden; und nicht von denen, die letztendlich die Entscheidungen treffen. Das bedeut: ganz gleich wie ehrenhaft die Intentionen sein mögen, die Erfolgschancen für dergleichen Vorschläge sind sehr gering.
Was sich glücklicherweise geändert hat ist der öffentliche Diskurs über solche Themen. Unerklärlicherweise konnten wir aber an den ersten beiden Tagen, und so den wichtigsten, wahrscheinlich lebhaftesten Diskussionen auf dem CIAM Frankfurt, nicht teilnehmen – es war nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Presse ausgeschlossen. Dass man heute die Öffentlichkeit einlädt sich an solchen Diskussionen zu beteiligen ist aber wichtig. Schließlich könnte dies eines Tages zu einer Situation führen, in der die Autoritäten durch die öffentliche Meinung gezwungen wären solche Untersuchungen in Gang zu bringen. Architekten müssten dann im Kontext festgelegter, realistischer, finanzieller und zeitlicher Rahmen ihre Projekte planen.
So wäre es ihnen möglich erfolgreiche Lösungen zu entwickeln, Lösungen, die dringend gebraucht werden. Denn das Problem der Errichtung von Wohnungen zu tragbaren Mieten für die mindestbemittelte Schicht der Bevölkerung steht heute im Vordergrund des Interesses in fast allen zivilisierten Ländern.
1. Sigfrid Giedion, Die Chronologie der 1. Periode, in Martin Steinmann, CIAM : internationale Kongresse für Neues Bauen; Dokumente 1928-1939, Birkhäuser, Basel, 1979
2. Helen Barr, Frankfurt 1929: Der Kongress tagt. Eine Rekonstruktion des CIAM II, in Helen Barr, Neues Wohnen 1929/2009 Frankfurt und der 2. Congres International d’Architecture Moderne, Jovis, Berlin, 2011
3. Das Neue Frankfurt, Heft 10, October 1929
4. Eugen Kaufmann, Die internationale Ausstellung „Die Wohnung für das Existenzminimum“ in Das Neue Frankfurt, Heft 11, November 1929
5. Das Neue Frankfurt, Heft 4/5, April/May 1930
6. Zusammentragen aus verschiedenen Mitteilungen in Das Neue Frankfurt
7. Sigfrid Giedion, Die internationalen Kongresse für Neues Bauen in Die Wohnung für das Existenzminimum: auf Grund der Ergebnisse des II. Internationalen Kongresses für Neues Bauen, Englert & Schlosser, Frankfurt am Main, 1930
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