Kaum ein zweites Material hatte einen derartigen Einfluss auf Architektur und Design und ist zudem so anonym geblieben wie das Furniersperrholz. Ein Material, das in der Öffentlichkeit leicht übersehen wird und in einem akademischen Kontext bisher kaum erforscht wurde. Das V&A Museum London will jetzt mit der Ausstellung „Plywood: Material of the Modern World“ Abhilfe schaffen.
„Mir ist seit langer Zeit bewusst, dass über die Geschichte des Furniersperrholz‘ nur wenig veröffentlicht wurde, und so habe ich begonnen zu recherchieren, und entdeckt, dass es zur Geschichte des Furniersperrholzes keine Publikation gibt.“ erklärt Co-Kurator Christopher Wilk den Hintergrund der Ausstellung.“ Das hat mich fasziniert, und je mehr ich geforscht habe, desto mehr überraschende und längst vergessene Dinge habe ich entdeckt.“ „Plywood: Material of the Modern World“ erzählt diese überraschende, in Vergessenheit geratene Geschichte. Die Ausstellung beginnt in der Mitte des 19. Jahrhunderts und nimmt den Besucher mit auf eine Reise durch 150 Jahre des Furniersperrholzes, und so nicht nur auf eine Reise durch 150 Jahre Design und Architektur, sondern auch durch 150 Jahre Kultur-, Sozial-, und Wirtschaftsgeschichte. Mit allen Drehungen und Wendungen, Zufällen, Glücksfällen und Moden, die dazugehören.
Die frühsten Formen von sperrholzartigen Materialien waren schon im alten Ägypten 2600 vor Christus bekannt, und auch wenn in den dazwischenliegenden Jahrhunderten diverse Formen von Sperrholz benutzt wurden, beginnt die Geschichte des heutigen Furniersperrholzes in den 1830er Jahren mit der Entwicklung des mechanischen Schälfurnierschneiders. Dabei handelt es sich im Grunde um einen riesigen Kartoffelschäler, der Baumstämme in meterlange Blätter dünnen Holzes verwandelt. Diese Furnierblätter werden anschließend verleimt und bilden so die Sperrholzbretter. Ursprünglich in Russland patentiert verbreitete sich der Schälfurnierschneider schnell auf der ganzen Welt, revolutionierte die Furnierproduktion und das laut Christopher Wilk mit Schwung. In einem Interview aus dem Jahr 1851, das während der Forschungen auftauchte, behauptet ein ehemaliger Furnierschneider er hätte in den Ruhestand gehen müssen, weil in Großbritannien kein handgeschnittenes Furnier mehr produziert wurde. So tauchte das Furniersperrholz zu Beginn des Industriezeitalters als brauchbare, kosteneffektive, industriell produzierte Alternative zu Metallen auf, und Ingenieure und Architekten realisierten schnell, dass Leichtigkeit, Stärke und Formbarkeit des Materials der Realisierung ihrer Ideen keine Grenzen setzten. Und wenn es ihnen an einer Sache nicht mangelte, dann waren es Ideen.
Die vielen Eigenschaften des Furniersperrholzes machten es besonders geeignet für Designs im Transportwesen. Material of the Modern World liefert so auch eine große Bandbreite an Booten, Kanus, Autos und Zugwaggons, die vollständig oder anteilig aus Sperrholz produziert wurden. Hinzu kommen zahlreiche Beispiele des Einsatzes in der Luftfahrt, darunter die Entwicklung des heute standardmäßig stromlinienförmigen Flugzeughinterteils. Diese Form wurde zuerst zu Beginn des 20.Jahrhunderts aus Furniersperrholz gefertigt, zu einer Zeit da alle anderen Flugzeuge immer noch stur und ganz und gar unaerodynamische, quadratische Formen hatten. Die Flexibilität des Furniersperrholzes machte es möglich, ganz neue Formen zu kreieren. Abgesehen vom Einsatz im Transportwesen wurde Furniersperrholz zu einem wichtigen Konstruktionsmaterial bzw. Baustoff. Vor allem in Amerika und im Kontext der großen Depression der 1930er Jahre und in den nachfolgenden Kriegsjahren, als – wie die Ausstellung wunderbar erklärt – man auf kostengünstige, flexible und schnell aufgebaute Behausungen angewiesen war. Behausung wie die des US Forest Products Laboratory, FPL, die in der Ausstellung mittels Fotos, Dokumenten, und der Rekonstruktion eines FLP Schauhauses aus dem Jahr 1936 vertreten sind.
Abgesehen davon, und von anderen bekannten Anwendungen von Furniersperrholz, präsentiert „Material of Modern World“ auch eher experimentelle, abseitige Beispiele. Beispiele dessen, was Designer, Architekten und Ingenieure aus Furniersperrholz realisiert haben, darunter Gepäck, Schwimmwesten, und allen ernstes eine Oberlaufbahn aus Furniersperrholz, die im Jahr 1867 vorgeschlagen wurde. Dabei handelt es sich im Grunde um zwei lange Furniersperrholz-Röhren. Die Passagiere sollten dabei in der inneren Röhre sitzen, während sich diese durch die äußere Röhre bewegt, angetrieben durch Ventilatoren. Angeblich testeten 75000 Menschen ein Modell in New York – was eine ganze Menge über die Abenteuerlust unserer Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert aussagt.
Die neue Verfügbarkeit des Furniersperrholzes hatte aber nicht nur Vorteile: abgesehen von den arbeitslos gewordenen Furnierschneidern hatte die industrielle Furnierproduktion eine überraschende Konsequenz: „die Einführung der elektrischen Säge zwischen 1790 und 1810 und die Entwicklung des Furnierschälers um 1830 brachten den Preis für Furnier zum einstürzen“, erklärt Christoph Wilk, „das hieß zum ersten mal in der Geschichte waren billige Möbel furniert – vorher waren das nur die teuersten. Aber die neuen Möbel hielten nicht lang, weil sie billig waren, und so begann die Öffentlichkeit Furnierhölzer mit schlechter Qualität in Verbindung zu bringen.“ Dieses Stigma führte dazu, dass Furniersperrholz über viele Jahrzehnte hinweg eingesetzt wurde, ohne, dass sich die Verbraucher dieser Tatsache bewusst gewesen wären. Nach dem 2. Weltkrieg jedoch änderte sich dies radikal.
Ermöglichte der mechanische Furnierschneider die Massenproduktion von Furnier und Sperrholz, führten technologische Weiterentwicklungen und vor allem qualitativ hochwertigere Klebstoffe in den 1920er und 30er Jahren dazu, dass sich die Qualität des gebogenen Furniersperrholzes verbesserte. Und an diesen Entwicklungen hatte die zukünftige Industrie ein besonderes Interesse. All das führte am Ende zu einer Rehabilitierung des angeschlagenen Rufes von Furniersperrholz. Neben beispielhaften Sperrholzmöbeln, vor allem Stühlen von Leuten wie Egon Eiermann, Arne Jacobsen oder Grete Jalk, präsentiert „Material of the Modern World“ auch den Prototyp eines Tisches von Marcel Breuer und eine Reihe von Kleiderhaken und Türklinken aus den 1930er Jahren, die aus den Neuen Werkstätten Hellerau stammen und Bruno Paul zugeschrieben werden. Das ermöglicht wiederum eine sehr schöne Neubewertung einiger der berühmtesten Befürworter von Sperrholzmöbeln in der Geschichte, von Ray und Charles Eames nämlich. Sie waren große Designer, aber keine Vorreiter des Sperrholz‘ und keine Pioniere bei der Verwendung von gebogenem Sperrholz, wie häufig behauptet wird. Sie erfanden auch nicht den Einsatz von aufblasbaren Gummiballons bei der Herstellung von gebogenem Sperrholz. Die Erfindung dieses Verfahrens geht auf das Jahr 1919 und die Loghead Brothers zurück, die Flugzeugteile unter Einsatz eines großen Gummiballons und einer Zementform herstellten. Es gab also eine Menge Pionierarbeit in Sachen Sperrholzproduktion vor den Eames. Die Eames waren allerdings die einflussreichsten Möbeldesigner in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und man beachte die Zahl an Designern, die nach ihnen damit begannen Sperrholz zu verarbeiten.“ Ein Einfluss, der wohl vor allem in der Ästhetik der Eames begründet liegt, würden wir annehmen. Könnte man eigentlich sagen, die Eames nutzten den Prozess mit dem Alvar Aalto angefangen hat und entwickelten ihn weiter? „Das ist durchaus zutreffend“, antwortet Christopher Wilk, „und was ihnen außerdem zu verdanken ist: sie entwickelten Sperrholz für den häuslichen Gebrauch, die brachten das Material in die Wohnungen, und dabei hatten sie sehr viel größeren Erfolg als beispielsweise Aalto. Alvar Aaltos Möbel wurden nie wirklich in Serie produziert, und grundsätzlich gehörten Sperrholzmöbel vor 1940 nicht wirklich zum Wohnmobiliar. Zumindest keine als solche erkennbaren, beim viktorianischen Furniersperrholz konnte man einfach nicht erkennen, dass es sich um Sperrholz handelte.“
„Material of the Modern World“ erzählt also nicht nur die Geschichte des Furniersperrholzes, sondern erinnert uns auch daran, dass die Geschichte des Produktdesigns immer auch eine Geschichte der Materialien und Produktionsprozesse ist, genauso wie sie von kulturellen, sozialen und ökonomischen Faktoren abhängt. Oder besser gesagt: es geht um die Querverbindungen zwischen Materialien, Prozessen und den sozialen, kulturellen und ökonomischen Gegebenheiten. Ohne die sukzessiven technischen Neuerungen von Prozessen und Materialien und deren Erforschung wären neue Produkttypen schlicht nicht möglich gewesen. Und ohne die richtigen Bedingungen, die es ihnen ermöglichten sich zu etablieren, wären viele heute wohl eher Kuriositäten anstatt gefeierte Klassiker. Eine schöne Erinnerung also daran, dass es sich bei einem wirklich andauernden, langlebigen Möbeldesign selten um nur einfach eine schöne Form handelt.
So linear die Entwicklung des Furniersperrholzes auch sein mag, sie ist (wenn man es so sagen will) auch leicht spiralförmig. Während nämlich Mitte des 19. Jahrhunderts Sperrholz in einer gebogenen Form verwendet wurde, wurde es im späten 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts überwiegend in Form von flachen Blättern eingesetzt. Zum Beispiel bei den Teelattenkisten des britischen Königreichs, oder als Teil von Autokarosserien des deutschen Herstellers DKW, bevor die Vertreter der Moderne dann wieder mit dem Biegen und Formen anfingen. Heute setzen die aktuellen, digital arbeitenden Hersteller wieder gerade Blätter ein.
„Material of the Modern World“ endet nicht nur mit einem Blick auf Sperrholz als einem Material des digitalen Zeitalters und die Möglichkeiten, die sich durch Open-Source, schnelle Prozesse und CNC Technik ergeben, sondern nimmt auch Konstruktionssysteme, die auf Furniersperrholz basieren, ins Visier – so zu Beispiel laminiertes Furnierbauholz oder über Kreuz laminiertes Nutzholz. Außerdem, und das hat uns besonders gefallen, thematisiert die Ausstellung auch Sperrholzproduktion aus illegal gefälltem Nutzholz und so die Umwelteinflüsse des Sperrholzes in einer kapitalistischen Welt. In etwas positiverer Richtung diskutiert „Material of the Modern World“ darüber hinaus neue Entwicklungen, die es ermöglichen Sperrholz aus vorher unbrauchbaren Kokosnusspalmen zu produzieren. Dies würde neue Einkommsquellen für ländliche Bevölkerungsschichten, beispielsweise in pazifischen Regionen erschließen. Entwicklungen, die natürlich die Frage nach der Zukunft des Sperrholzes aufwerfen. Für Christopher Wilk ist die Antwort klar: „Trotz der Tatsache, dass die Verkäufe von Furniersperrholz zahlenmäßig in den Keller gegangen sind, zuerst in den 1970er Jahren durch MDF und dann in den 1980er Jahren durch OSB, können diese Materialien nicht alles was Furniersperrholz kann, noch haben sie diese schöne Oberflächenbeschaffenheit, und aus diesem Grund haben Architekten und Interiordesigner zunehmend Furniersperrholz eingesetzt, weil sie das Erscheinungsbild schätzen. Und ich sehe nicht, dass sich das in Zukunft ändern wird.“
Als Ausstellung über nur ein Material könnte Material of the Modern World sehr schnell doof und nerdig werden. Um ehrlich zu sein haben wir uns die Ausstellung sehr aus der Perspektive des Nerds heraus angesehen, aber wir sind ohnehin Freaks, insofern ignoriert uns einfach. Für alle Besucher, die einfach mehr über Sperrholz lernen wollen, ist „Material of the Modern World“ eine klar gestaltete und zugängliche Ausstellung, in der man eine Menge lernt ohne sich dessen bewusst zu sein. Die Mischung aus spezifischen und allgemeineren Informationstafeln, informiert ohne unnötig tiefschürfend oder technisch zu werden. So thematisiert die Ausstellung beispielsweise die Wichtigkeit von neuen Klebstoffen bei der Entwicklung heutiger Furniersperrhölzer, bleibt aber bei diesem Thema nicht hängen, sondern geht lebhaft zum nächsten Thema über. Besonders erfreulich an „Material of the Modern World“ ist, dass die Ausstellung, anstatt nur zu erklären was sich mit Sperrholz anstellen lässt, erklärt aus welchem Grund das Material so vielseitig einsetzbar ist, wie es hergestellt wird und wie dieser Prozess seit dem frühen 19. Jahrhundert weitestgehend der gleiche geblieben ist. Man lernt das Material so wirklich zu schätzen.
„Plywood: Material of the Modern World“ läuft im V&A Museum, Cromwell Road, London SW72RL bis Sonntag, den 12.November.
Weitere Informationen, darunter die Details zum Rahmenprogramm der Ausstellung sind unter www.vam.ac.uk zu finden.