Die Zeit ist ein komisches Ding: Sie begleitet unser Universum seit Anbeginn, hat die Entwicklung unserer zivilen und sozialen Gesellschaft ermöglicht, sie ist die Grundlage unserer ökonomischen, industriellen und kommerziellen Systeme und führt uns durch jeden Tag, jede Woche, jeden Monat, jedes Jahr und das ganze Leben.
Und trotz allem ist noch immer unklar, ob sie tatsächlich existiert.
Und wenn sie existiert, dann in welcher Form? Wie können wir sie visualisieren und dokumentieren? Hat sie einen inhärenten Wert?
Einige Vorschläge für mögliche Antworten liefert die Ausstellung Designpreis Halle 2017.
Der Designpreis Halle ist ein alle drei Jahre stattfindender Wettbewerb für Designer unter 40 Jahren, der im Jahr 2007 von der Stadt Halle, Vertretern des lokalen Gewerbes und der Kunsthochschule Burg Giebichenstein gegründet wurde. Er ist offen für Arbeiten sämtlicher Designgenres, die sich in erster Linie mit dem Thema der jeweiligen Ausgabe befassen: Das waren bisher Elektrizität, dann Reisen und Wasser und in der diesjährigen vierten Ausgabe geht es um die Mannigfaltigkeit der Zeit.
Für den Designpreis Halle wurden 375 Bewerbungen von Designern aus 31 Ländern eingereicht, aus denen die Jury unter der Leitung des Designjournalisten Thomas Edelmann und bestehend aus Persönlichkeiten, die auch regelmäßig im smow Blog auftauchen, wie beispielsweise Hersteller Nils Holger Moormann, Designer und Professor der UdK Berlin, Axel Kufus, und die Leiterin des Kunstgewerbemuseums Dresden, Tulga Beyerle, 15 Nominierte und letztlich drei Gewinner ausgesucht hat.
Mit einer wunderbaren Mischung aus technischen, handwerklichen, theoretischen und praktischen Projekten betont die Ausstellung Designpreis Halle gekonnt einen der Aspekte, die den Preis für uns so toll machen: Man geht verantwortungsvoll mit dem Designbegriff um, gibt ihm Raum zu atmen und lässt sich nicht ablenken von denen, die den Designbegriff nur für ihre eigenen Zwecke ausbeuten. Betont wird, dass Design ein Weg ist, die Welt wahrzunehmen, sie zu verstehen und sich ihr anzunähern und dass Design somit ein Weg ist, Probleme zu lösen. Design kann, sollte und muss Produkte entwickeln, die unser Leben einfacher und schöner machen. Design kann, sollte und muss aber auch kritisieren, analysieren, Fragen aufwerfen und nicht nur alternative Realitäten andeuten, sondern diese auch realisieren.
Design ist wohl am besten, wenn es all diese Kriterien in einem Objekt vereint.
Wir werden nicht behaupten, dass uns alle 15 Nominierungen umgehauen haben, allerdings haben einige wirklich unsere Aufmerksamkeit erregt und unsere Fantasie beflügelt.
Kalender mit speziellem Mechanismus von Moritz Jähde ist im Grunde ein gebräuchlicher Abreißkalender, allerdings einer, der akzeptiert und versteht, dass man das Abreißen vergessen wird. Er erledigt also das Abreißen für einen und informiert darüber, dass jetzt „heute“ ist. Eine schöne Erinnerung daran, dass die Zeit zu messen nicht notwendigerweise so wichtig ist, wie wir oft annehmen. Vielleicht sollten wir uns also entspannen und die Tage ziehen lassen.
Für ihr Projekt 1059 hat Lisa Marie Quester, Studentin an der Burg Giebichenstein, hunderte Papierstreifen – womöglich 1059 – zu Kokons zusammengerollt. Anschließend hat sie diese auf dem Boden als Modell eines Teppichs ausgelegt. Warum? Weil Lisa Marie Quester durch die konzentrierte, fortlaufende, sich wiederholende Arbeit Ruhe findet. Zeit für sich selbst. Und so Erlösung vom Druck all derer, die bestimmen wollen, wie und wo du deine Zeit verbringst. Sie erobert sich ihre und so unser aller Zeit zurück.
Der römische Philosoph Seneca war fest davon überzeugt, das Leben sei nicht kurz, wir würden nur den Großteil davon verschwenden, da wir uns bekanntermaßen auf nutzlose Vorhaben und Beschäftigungen konzentrieren. Ohne von Senecas feinen Gedankengängen ablenken zu wollen – eine Sache, die wir tatsächlich viel zu oft tun, ist auf die Uhr zu schauen. Zeit zu verschwenden mit der Zeit. Mit seiner Albert Clock präsentiert der in Marseille ansässige Designer Axel Schindlbeck die Zeit als arithmetisch, er bringt uns dazu, Gleichungen zu lösen, um die Zeit zu entziffern und zwingt uns so, darüber nachzudenken, wie wichtig es tatsächlich ist, die Zeit zu entziffern. Sind wir bereit, dafür zu arbeiten? Und wenn nicht, warum schauen wir weiterhin ständig auf die Uhr? Die Albert Clock hat also den offensichtlichen Vorteil, dass sich, wenn wir weiterhin auf die Uhr schauen, dank des andauernden Trainings unsere Kopfrechenfähigkeiten verbessern werden. Wir sind uns sicher, dass auch Seneca das für gut befunden hätte.
Wir haben uns besonders über das Wiedersehen mit Es liegt was in der Luft von Patrick Palcic gefreut, ein Projekt, das das Vergehen der Zeit durch eine Abfolge von Düften misst. Wir haben uns genauso darüber gefreut wie beim ersten Mal, als wir es damals in Köln gesehen haben. Damals bekam das Projekt zurecht seinen Platz in unserem Post IMM Cologne High Five.
Die Jury allerdings hat Flux 1440 von Felix Vorreiter, Absolvent der Hochschule für Gestaltung, HfG Karlsruhe, am meisten beeindruckt – dieses Projekt erhielt jedenfalls den ersten Preis. Als schönes Zusammenspiel von digital und analog ist Flux 1440 mit einem markierten, kodierten, 1,2 Kilometer langen Stück Schnur ausgestattet, das durch ein uhrenartiges Gehäuse gezogen wurde. Alle 60 Sekunden reihen sich die Markierungen auf dem Seil auf, um die neue Minute in der Art einer digitalen Anzeige anzuzeigen. Besonders schön ist, wie die Länge des Seils die Endlosigkeit der Zeit visualisiert, während das komplexe System nur entwickelt wurde, um eine ziemlich naive, simple Zeitanzeige zu ermöglichen. Flux 1440 mokiert sich so sehr schön darüber, dass wir überhaupt darüber nachdenken, was die Zeit eigentlich ist.
Das Hallenser Physik- und Chemie-Institut wurde im Jahr 2010 geschlossen. Seitdem sind die Räume leer geblieben. Für die Ausstellung Designpreis Halle präsentiert der Kurator Vincenz Warnke die früheren Laborräume in klinischem, sterilem Weiß. Vom Boden bis zur Decke ist jede vertikale, horizontale und diagonale Fläche Weiß. Es besteht eine große Ähnlichkeit zu der Art und Weise, wie Filmregisseure zukünftige Gesellschaften darstellen, die so weit entfernt von uns sind, dass wir uns kaum vorstellen können, ein solches Jahr jemals zu erreichen. Die Entscheidung für das klinische Weiß steht in schönem Kontrast zum eher heruntergewirtschafteten Zustand des Gebäudes, an dem die Zeit ihre Zeichen gelassen hat. Außerdem ist diese Lösung sehr viel schöner als die einfachere Variante: den Verfall nämlich einfach in den Ausstellungsraum einzubeziehen.
Zeit hinterlässt natürlich keine Narben, Zeit führt nicht zu Verfall. Zeit heilt keine Wunden. Zeit bringt keine Veränderung. Unsere Handlungen und Entscheidungen tun das. Die Zeit ist nur immer ein einfacher und fügsamer Sündenbock.
Wir sind über die Jahrhunderte sehr kompetent in Sachen Landschaft und Familie geworden und darin, künstliche Konstruktionen zu entwickeln, die es uns ermöglichen, Zeit zu ordnen und zu verstehen. Und nur durch die Assoziationen, die wir mit Begriffen verknüpfen, erhalten „Familie“ und „Landschaft“ eine emotionale Wichtigkeit, die weit über ihre eigentliche Bedeutung hinausgeht. In ähnlicher Weise ist die Zeit etwas Fundamentales, Essentielles für uns geworden. Dumm ist nur, dass sich die Fundamente, auf denen unsere Konstrukte ruhen, durch soziale, kulturelle und technische Veränderungen und Prozesse ständig verändern. In unserer heutigen Zeit wären Globalisierung, Digitalisierung und internationaler Terrorismus ganz klar die Hauptgründe für solche Veränderungen. Als Antwort auf solche Veränderungen kreieren wir instinktiv immer kompliziertere Konstrukte, die uns helfen sollen, die Zeit einzufangen, aus Angst, sie zu verlieren.
So ist die vielleicht wichtigste Lehre aus der Ausstellung Designpreis Halle, dass wir eine natürlichere, rationalere und nachhaltigere Beziehung zur Zeit entwickeln können, indem wir lernen, aus unterschiedlichen Perspektiven mit einer alternativen Auffassung auf die Zeit zu schauen, ohne auf klare Antworten zu hoffen. Denn ob sie nun existiert oder nicht – sie wird nicht enden.
Weitere Details, darunter die Liste mit allen Nominierten, gibt es unter http://designpreis-halle.de/.
1. Preis: Flux 1440 von Felix Vorreiter, Karlsruhe
2. Preis: Albert Clock von Axel Schindlbeck, Marseille
3. Preis: Agil – Konzept für eine interaktive Schriftart von Charlotte Lengersdorf, London
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