Mit der Ausstellung "Stapeln. Ein Prinzip der Moderne" zelebriert das Wilhelm Wagenfeld Haus in Bremen die Vielseitigkeit eines der einfachsten (Design)-Prinzipien.
Ein Objekt auf einem anderen zu platzieren ist eine dem Menschen angeborene Handlung. Wir beginnen damit, bevor wir sprechen können - die Sache ist so einfach und selbstverständlich, dass wir ihr normalerweise keine Beachtung schenken. Warum auch - wenn es doch so offensichtlich ist. Wir haben alle unser Leben lang Dinge auf andere Dinge gestellt, ohne nach dem Wie und Warum zu fragen. Als Designprinzip ist das Platzieren eines Objektes auf ein anderes verhältnismäßig neu. Warum das so ist, wie sich das Stapeln als Designprinzip über die Zeit entwickelt hat, und was den Designprozess stapelbarer Objekte besonders macht, wird in der Ausstellung "Stapeln. Ein Prinzip der Moderne" im Wilhelm Wagenfeld Haus in Bremen untersucht.
Ausgangspunkt zu "Stapeln. Ein Prinzip der Moderne" sind Wagenfelds Kubus Vorratsbehälter für die Vereinigten Lausitzer Glaswerke. Nicht nur eine von Wagenfelds bekanntesten Arbeiten, sondern auch eines der ersten Beispiele für den Einsatz des Stapelprinzips im Design. "Wir haben zahlreiche Exemplare des Kubus-Systems in unserem Lager", erklärt Dr. Julia Bulk, Direktorin der Wilhelm Wagenfeld Stiftung, "und eines Tages habe ich sie mir angeschaut und darüber nachgedacht, wie andere Designer mit dem Prinzip Stapeln umgehen." Eine Frage, die fast zu naheliegend ist um sie zu stellen und die ein Prinzip betrifft, das fast zu einfach ist um darüber zu reden. Aus der Frage resultiert eine Ausstellung, die das Stapeln im Design der letzen acht Jahrzehnte untersucht, und zwar im Kontext acht unterschiedlicher thematischer Bereiche.
Und trotzdem "beginnt" die Ausstellung tatsächlich mit einem nicht stapelbaren Objekt: der Durax Backschüssel, die Wilhelm Wagenfeld 1935 im Stil einer klassischen Terrine für die Jenaer Glaswerke entwarf, und die mit einem mittigen Griff auf dem Deckel ausgestattet ist. Gleich neben der Durax Backschüssel von 1935 steht die Durax Backschüssel von 1937 - ein stapelbares Objekt, welches Wagenfeld aus der nicht stapelbaren Vorgängerin entwickelt hat. Der direkte Vergleich führt die Ausstellungsbesucher auch gleich zu einem der zentralen Themen der Ausstellung: wie wirkt sich die "Stapelbarkeit" auf die Art und Weise aus, in der sich ein Designer einem Projekt nähert - auf die Art und Weise, wie er designt?
Im Falle der Backschüssel von 1937 hat Wagenfeld nicht nur den Griff auf der Oberseite des Deckels durch seitliche Griffe ersetzt, die mit den Griffen an der Schüssel korrespondieren und es ermöglichen, die Backschüsseln zu stapeln; er integrierte auch einen sogenannten Formschluss, eine leichte Vertiefung im Deckel, die dazu führt, dass das darauf gestapelte Objekt nicht verrutschen kann und an seinem Platz bleibt, um die Stabilität des Stapels zu garantieren. "Bei dieser Ausstellung muss man schon sehr genau hinsehen" rät Frau Dr. Bulk. Und tatsächlich, die eigentliche Schönheit, das geniale und magische vieler der Designs ist erstmal nicht sichtbar. Oft erkennt man es erst auf den zweiten oder dritten Blick. Nimmt man sich die Zeit, kommt man allerdings dahinter. Im Verlauf der Ausstellung lernt man wirklich zu schätzen, was Charles Eames mit seinem Ausspruch "die Details sind nicht die Details. Sie machen das Design aus" meinte. In diesem Zusammenhang hat es uns vor allem auch ein namenloser und niemandem zugeschriebener Essensbehälter aus Südostasien angetan, der aus der Mitte des 20. Jahrhunderts stammt. Ein Objekt, von dem wir in nächster Zukunft wohl ganz besessen sein werden.
Schaut man sich die Ausstellung genau an, wird man auch sehen, dass es tatsächlich ums Stapeln geht. Natürlich ist das offensichtlich, schließlich sagt das schon der Ausstellungstitel; stapeln heißt aber auch, dass es im Grunde keine direkte Verbindung zwischen den Objekten gibt. Die Objekte passen in- bzw. aufeinander, sind aber nicht miteinander verbunden. Bis auf ein paar ganz spezielle Ausnahmen.
Systeme, die durch physische Verbindungsstücke miteinander verbunden werden, betrachtet man grundsätzlich als vollständige Einheit, weil sie normalerweise nur als Einheit existieren. Die einzelnen Komponenten haben unterschiedliche Funktionen, sind aber nicht wirklich autonom.
Stapelbare Systeme hingegen existieren dazu auch als individuelle Objekte. Der Stapel ist ein flüchtiger Zustand, in den die individuellen Elemente immer wieder zurückfinden.
Etwas stapelbares zu designen zwingt Designer so dazu, das gesamte System in ästhetischer und funktionaler Hinsicht zu konzipieren, ohne dabei die autonomen, individuellen Elemente aus dem Blick zu verlieren. Ein Prozess, der - wie die Ausstellung sehr anschaulich demonstriert - in einer ganzen Reihe formaler Lösungen resultiert, darunter streng regulierte, modulare Systeme wie Kubus, aber auch sehr viel freiere Systeme, die den einzelnen Komponenten einen individuellen Charakter einräumen, allerdings einer streng strukturierten Ordnung folgen. Dazu zählt beispielsweise das TC 100 Service von Nick Roericht, oder völlig abstrakte Systeme bei denen die individuellen Elemente vom Ganzen aufgenommen werden, wie es beispielsweise La Boule von Helen von Boch wunderbar demonstriert.
Die Ausstellung "Stapeln. Ein Prinzip der Moderne" präsentiert Unmengen an Glas und Porzellan, was sich aber wohl auch gar nicht umgehen ließ: einige der klarsten und ausdrucksstärksten Beispiele fürs Stapeln im Design sind nun mal aus Glas und Porzellan hergestellt. Das betrifft vor allem Geschirr und Aufbewahrungsbehälter.
Die Ausstellung präsentiert zudem Unmengen an Objekten von Wilhelm Wagenfeld. Auch das ließ sich nur schwer umgehen: nicht nur aufgrund des Ausstellungsortes, sondern auch, weil es sich beim Stapeln um ein Thema handelt, zu dem Wilhelm Wagenfeld während seiner gesamten Karriere immer wieder zurückkehrte - und das ohne Frage mit großem Erfolg. Mit anderen Worten: einige der ausdrucksstärksten und klarsten Beispiele für Stapeln im Design stammen von Wilhelm Wagenfeld. Neben dem Kubussystem zeigt die Ausstellung unter vielen anderen Aufbewahrungs- und Serviergefäßen, diverse Eierbecher sowie Wagenfelds Flugzeugservice für Lufthansa aus dem Jahr 1955 - das erste Service dieser Art, das von der Airline in Auftrag gegeben wurde. Wir haben Dr. Julia Bulk gefragt, ob sich Wilhelm Wagenfeld in Anbetracht seiner langen und intensiven Beschäftigung mit Aufbewahrungsobjekten als Vater des Designprinzips "Stapeln" bezeichnen ließe (und waren uns dabei bewusst, dass wir im Wilhelm Wagenfeld Haus stehen). "Ich denke, das würde dann doch zu weit gehen", antwortet sie gerechterweise "Er war mit Sicherheit einer der ersten. Durch seine Arbeit haben viele das Potential des Stapelns verstanden. Ich denke aber, Designer wie Nick Roericht sind in diesem Kontext genauso bedeutend."
Diese Gleichberechtigung wird in der Ausstellung gut reflektiert. Dazu gehört auch die Entscheidung, Alvar Aaltos Stool 60 für das Ausstellungsfoto zu verwenden und nicht - was naheliegender wäre - Wagenfelds Kubus. Ja, es gibt eine Menge Wagenfeld zu sehen, aber wir haben es nicht mit einer Wagenfeldhuldigung zu tun. Vielmehr wird ein Designprinzip gewürdigt, das regelmäßig in Wagenfelds Oeuvre auftaucht und das sich anhand seiner Arbeiten exzellent erklären lässt.
Neben der Frage, wie sich Designer der Herausforderung stellen, stapelbare Produkte zu entwerfen, ist ein zweites wichtiges Thema der Ausstellung das Verhältnis zwischen dem Stapeln als Designprinzip und der Industrialisierung. Ein Thema, das mit der Frage beginnt warum - wenn es doch eine so naheliegende Handlung ist - Designer so lange gebraucht haben um das Stapeln für sich zu entdecken?
Die naheliegendste Antwort ist, dass sie eventuell gar nicht so lange gebraucht haben und das Prinzip eigentlich schon früh entdeckten. Vor der Industrialisierung gab es nur kaum Bedarf an stapelbaren Objekten, oder wie es Julia Bulk formuliert: "alles, wofür es keinen Bedarf gibt, existiert einfach nicht." Und vor der Industrialisierung, das heißt vor allem vor den sozialen, kulturellen und ökonomischen Veränderungen, die die Industrialisierung mit sich gebracht hat, gab es einfach wenig Bedarf an stapelbaren Systemen. Zumindest nicht im Sinne von Konsumgütern. Die Nachfrage hiernach kam erst mit der Industrialisierung.
Wagenfelds Kubus System eignet sich dabei perfekt, um diese These zu untermauern: es wurde in den 1930er Jahren für häusliche Kühlschränke entwickelt, die zu dieser Zeit eine relative Neuheit und ziemlich klein waren. Außerdem zu einer Zeit, da Nahrungsmittel nicht zwangsläufig in Verpackungen geliefert wurden. Man brauchte also neue Lösungen um zu garantieren, dass im Kühlschrank Ordnung und gute hygienische Bedingungen herrschen. Wagenfelds System macht genau das möglich und erreichte dies zudem mit einem neuen Material - mit gepresstem Glas. Ein Material, das weder sehr einfach, noch allzu naheliegend war. "Anfänglich wurde gepresstes Glas als minderwertig wahrgenommen, jeder wollte Kristallglas", erklärt Julia Bulk, "Wagenfeld allerdings realisierte, dass es sich perfekt eignete um geformt und industriell verarbeitet zu werden".
Die industrielle Produktion wiederum eignete sich perfekt für die Herstellung von stapelbaren Systemen, da sie die Produktion sehr präziser, standardisierter Formen möglich machte, und zwar schnell und in hoher Anzahl. Eine Kombination, die ab der 1920er Jahre zunehmend gefragt war, denn enorme soziale, ökonomische und demografische Veränderungen wirkten sich auf Wohnungsstandards, Arbeitspraktiken, Konsumverhalten,Transportwesen und den internationalen Handel aus. Neue Materialien, vor allem Kunststoffe, und neue Produktionsverfahren, die mit der Industrialisierung entwickelt wurden, waren integraler Bestandteil innovativer Lösungen, vor allem derjenigen stapelbaren Objekte, die entwickelt wurden um den neuen Realitäten gerecht zu werden.
Die Untersuchung des Stapelns als Designprinzip hilft also auch dabei, die Verbindung zwischen sozialen, kulturellen und ökonomischen Entwicklungen und technologischen Fortschritten zu verstehen, und die Rolle des Designers als Verbindungsmann, der beides miteinander verknüpft, und das in einer idealerweise funktionalen und visuell ansprechenden Art und Weise.
Deutlich wird so auch, dass der Ausstellungstitel nicht impliziert, die Modernisten hätten aus Prinzip gestapelt. Vielmehr ist er so zu verstehen, dass sie das Stapeln als ein einfaches und naheliegendes Mittel entdeckt haben, um auf die Veränderungen ihrer Zeit zu reagieren.
Julia Bulk zufolge war ein wichtiger Impuls bei der Entwicklung stapelbarer Möbel, und hierbei insbesondere stapelbarer Stühle, die steigende Anzahl kommunaler, multifunktionaler Hallen, die in der Nachkriegszeit gebaut wurden: neue Arten von Räumen bedurften neuer Arten von Stühlen. Dabei handelte es sich vor allem um Allzweckstühle, welche sich stapeln ließen, wenn sie nicht in Gebrauch waren. Darauf reagierte die Möbelindustrie nur allzu gern und registrierte schnell das Potential dieses neuen Marktes. Und wie es der Zufall so will versorgten die 1950er Jahre sie mit Designern, die wie dafür gemacht waren solche Stühle zu entwerfen: darunter Ray & Charles Eames, Arne Jacobsen und Egon Eiermann.
Ein weiterer Impuls für die Entwicklung von stapelbaren Stühlen - und dabei handelt es sich um einen leicht zu übersehenden Vorteil, vielleicht den wichtigsten - ist, dass stapelbare Stühle leichter und billiger zu verschiffen sind. Ein Vorteil, der im Rahmen der Konsumkultur und der damit verbundenen Massenproduktion von Möbeln ab den 1950er Jahren zunehmend wichtig wurde.
Die Vielzahl an Varianten, wie Stühle gestapelt werden und die Tatsache, dass sich eine so klar definierte Funktion nicht negativ auf Ästhetik und formale Variation auswirken muss, präsentiert eine Auswahl von Stühlen, die unter vielen anderen den Copenhagen Chair von Ronan und Erwan Bouroullec für HAY, den Casalino Stuhl von Alexander Begge für Casala und den 40/4 von David Rowland für HOWE umfasst.
Nach dem am Anfang ein Objekt gezeigt wurde, das sich nicht stapeln lässt, endet die Ausstellung mit der Auflösung des Stapelprinzips - eine Präsentation des, wenn man so sagen will, postindustriellen, postmodernen Stapelns. Hier geht es um Objekte, die nach ihrer ganz eigenen Logik gestapelt werden und so den systematischen und funktionalen Vorgaben der Industrialisierung widersprechen. Sie haben so die Möglichkeit, sich offener und emotionaler zu präsentieren und beziehen so den Nutzer sehr viel stärker ein. So wird auch sehr präzise demonstriert, dass die Evolution des Designs nicht nur eine der Formen, Materialien und Funktionalitäten ist, sondern auch eine Evolution unserer Beziehung zu Objekten und der Art wie Objekte mit uns kommunizieren und mit ihrer Umgebung interagieren.
Eine Entwicklung der bestimmt auch Wagenfeld zugestimmt hätte, oder wie er einmal selbst sagte: " Der Zweck eines Objektes hat eher zweitrangige Bedeutung. Viel wichtiger ist hingegen, wie es benutzt wird... Denn erst mit dem Gebrauch entwickelt sich Kultur und die Überwindung eines angenommenen Daseinszweckes"
Entsprechend der räumlichen Voraussetzungen ist Stapeln. Ein Prinzip der Moderne eine eher kleine Angelegenheit. Glücklicherweise sind die Kuratorinnen nicht wie so oft in die Falle getappt und haben die Ausstellungsräume überfüllt. Weniger ist oft mehr, und im Zusammenhang mit Stapeln. Ein Prinzip der Moderne bedeutet das, dass man Dank der reduzierten Auswahl an Objekten nicht mit einer Ausstellung konfrontiert ist, in der sich die Ausstellungstücke übereinander stapeln.
Die reduzierte Auswahl wird zudem gut unterstützt durch das schlanke Ausstellungsdesign von Jakob Gebert, Hanna Krüger und Christian Poppel. Und das obwohl - und das mag in der Natur vieler Ausstellungstücke stecken - eine furchtbare Menge von Objekten in Glasvitrinen zu sehen ist. Wie wir schon oft bemerkt haben, ist das eigentlich nie gute Sache; allerdings geben die Ausstellungsräume den Besuchern die Möglichkeit die Objekte ganz entsprechend der Empfehlung von Dr. Julia Bunk genau unter die Lupe zu nehmen und so das beste aus der gut realisierten Ausstellung herauszuholen.
Wenn wir einen Kritikpunkt hätten, dann den, dass es die einzige Ausstellung in Deutschland zu diesem Thema ist. Schließlich ist das Stapeln ein weltweites Phänomen.
Der Wilhelm Wagenfeld Stiftung zufolge ist Stapeln. Ein Prinzip der Moderne die tatsächlich erste Ausstellung, die sich mit diesem Thema auseinandersetzt. Überraschen würde es uns nicht - das Stapeln ist schließlich ein so einfaches, sich selbst erklärendes Thema - wo stellt sich hier die Frage des Wie und Warum? Was soll hier erforscht werden?
Stapeln. Ein Prinzip der Moderne läuft im Wilhelm Wagenfeld Haus, Am Wall 209, 28195 Bremen bis Montag, dem 17. April. Alle Details, darunter Informationen zu Führungen und das Begleitprogramm sind unter www.wilhelm-wagenfeld-stiftung.de zu finden.