Genau wie die Geschichte des gegenwärtigen Fußballs beginnt auch die Geschichte der zeitgenössischen Architektur und des Designs auf den Britischen Inseln und genau wie beim Fußball hat es auch nicht lange gedauert, bis die Länder Großbritanniens von ihren europäischen Nachbarn an der Spitze der Künste verdrängt wurden. In beiden Fällen zogen Deutschland und Frankreich mit bemerkenswerter Geschwindigkeit, Eifer und Anmut am Vereinigten Königreich vorbei.
Inspiriert von der im Sommer stattfindenden Fußball-Europameisterschaft 2016 in Frankreich zeigt das Bröhan-Museum Berlin die kreative Rivalität, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zwischen Frankreich und Deutschland bestand.
„Nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870 und 1871 wurde die Politik in Europa größtenteils von der Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich definiert und es ging auch um kulturelle Fragen. Die beiden Länder fanden sich selbst am wichtigsten und sahen in dem anderen den größten Feind“, so Dr. Tobias Hoffmann, der Direktor des Bröhan-Museums und Ausstellungskurator zum Hintergrund der Ausstellung. „Zwischen 1900 und 1930 war die Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland besonders intensiv, in vielerlei Hinsicht war es auch die wichtigste in Bezug auf die Kreativität in Europa und mit dieser Ausstellung möchten wir der Beziehung auf den Grund gehen.“
Hierzu präsentiert das Bröhan-Museum etwa 300 Objekte in einer überwiegend chronologischen Ausstellung, die wie alle guten Fußballspiele visuell ansprechend sind, ein Spiel mit zwei Halbzeiten und ein Wettbewerb, der von ein paar Schlüsselmomenten bestimmt wird. „Mit dem pompösen Jugendstil hat Frankreich das 1:0 geschossen“, so Dr. Hoffmann. Obgleich das Tor in vielerlei Hinsicht eher als Ablenkung eines deutschen Tors als ein französisches Tor angesehen werden muss. Der Begriff Art Nouvau (dt. „Jugendstil“) stammt vom Salon d’Art Nouveau ab, der 1895 von dem in Hamburg geborenen Kunsthändler und -sammler Siegfried Bing in Paris eröffnet wurde. Und auch, wenn Bing später die französische Staatsbürgerschaft annahm, so war er zu diesem Zeitpunkt doch definitiv ein deutscher Staatsbürger.
Im Laufe der folgenden Jahre übten die Deutschen kontinuierlich Druck auf die Franzosen aus. Bei vielen Gelegenheiten schienen sie einen Weg durch die eher dekorativen Aspekte des Jugendstils gefunden zu haben und haben so den Ausgleich geschafft. All das geschah vor einem schnellen Konter, der unserer Ansicht nach von einem Hickhack im Mittelfeld ausgelöst wurde, bei dem es um die Relevanz normativer Formen gegenüber künstlerischer Freiheit ging. Die Franzosen erreichten die Führung dann dank Art Déco, einer Bewegung mit französischen Wurzeln, die ihren Namen aber in vielerlei Hinsicht, wenn auch nur vermeintlich, dem Schweizer Architekten und Designer Le Corbusier zu verdanken hat.
Eine Tatsache, die klar zeigt, dass es selbst in einer räumlich sehr begrenzten Ausstellung unmöglich ist zu behaupten, dass es sich zu der Zeit um einen reinen französisch-deutschen Wettbewerb handelte. In beiden Mannschaften gab es fremde, naturalisierte Spieler, die es somit natürlich auch in der Ausstellung gibt. Darunter sind untere anderem der bereits genannte Le Corbusier, der österreichische Architekt Joseph Maria Olbrich, der eine Schlüsselrolle in der Entwicklung der Darmstädter Künstlerkolonie spielte, der Magyar Marcel Breuer, der Niederländer Gerrit T. Rietveld oder der legendäre belgische Mittelstürmer Henry van de Velde, der nicht nur in die Taufe des Jugendstils und somit in das 1:0 für Frankreich involviert war, sondern den Deutschen später dabei half, ihren Weg zurück ins Spiel zu finden.
In Anbetracht dieser Auflistung internationaler Talente stellt sich natürlich die Frage, welche Rolle Berlin einnimmt. Wenn man bedenkt, dass das Spiel in Berlin stattfindet, spielt Berlin auf dem Spielfeld eine besondere Rolle?
„Eine große sogar“, so Tobias Hoffmann, „Berlin lag lange Zeit weit hinter Paris, das sich im 19. Jahrhundert als eine der größten Metropolen Europas etabliert hat und Berlin hat erst nach der Gründung des Deutschen Reichs 1871 angefangen aufzuholen. Berlin ist trotzdem der Ort, an dem die engagierte, kommerziell orientierte Zusammenarbeit mit der Industrie, also funktionalistisches Design, seinen Durchbruch erreicht.“
Und die folgende Minderung des Abstands zum 2:1 durch die Entwicklung solch enger Kooperationen zwischen der Industrie und den kreativen Künsten. Dies wird vielleicht am besten durch Peter Behrens Arbeiten für AEG in den Bereichen Architektur, Produktdesign, Grafikdesign, Interior Design und Gartendesign verdeutlicht, aber auch durch Beiträge von Bruno Paul oder Richard Riemerschmid.
Die Kunstschule im Schweizerischen La-Chaux-de-Fonds schickte ihren damaligen Studenten Charles-Édouard Jeanneret a.k.a. Le Corbusier 1910 auf eine Studienreise durch Deutschland, um über zeitgenössische Architektur und Angewandte Künste nachzuforschen. Diese Tatsache zeigt die Bedeutung der Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und die Verschiebung der Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland, die sie aufzeigt. Sie wollten wissen, was die Deutschen taten und daraus lernen. Die daraus resultierende Publikation A Study of the Decorative Art Movement in Germany ist nicht nur die erste Dokumentation dessen, was in Deutschland zu dieser Zeit gemacht wurde und eine Inspirationsquelle für Designer und Architekten in Europa, inklusive Le Corbusier. Sie bestätigt auch unmissverständlich, dass eine neue Epoche darauf wartete, ins Spiel eingewechselt zu werden.
Eine neue Epoche, die ihre entscheidendste und intensivste Rolle in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg spielte und zwar mit dem Aufkommen des Funktionalismus. Institutionen wie das Bauhaus Dessau, Ausstellungen wie die Weißenhofsiedlung Stuttgart und Programme wie Neues Frankfurt verliehen der Bewegung in Deutschland besonders viel Ausdruck und sorgten so für das 2:2.
Dann der Schlusspfiff.
Gibt es ein faires Ergebnis und war es vor allem ein fairer Wettbewerb?
„Während des Spiels wurde die Stimmung teilweise sehr hitzig, aber am Ende war es harmonischer und im Jahre 1930 besteht eine sehr ausgeglichene Beziehung. Am besten ist vielleicht die Tatsache, dass die Beziehung zum Ende des Spiels hin freundschaftlich wurde. Die Designer realisierten, dass es wenig Sinn ergibt, gegeneinander zu arbeiten“, reflektiert Tobias Hoffmann in seiner Analyse nach dem Spiel.
„Deutschland gegen Frankreich“ erklärt die Interaktion und Kräfteverschiebung innerhalb der kulturellen französisch-deutschen Beziehung jener Zeit und verdeutlicht auch sehr genau, dass der Weg von 1900 bis 1930, also von Jugendstil über Art Déco bis zum Funktionalismus, ein kontinuierlicher Prozess war. Wie wir in unserem Post zu der Ausstellung „Art Déco: Elegant, kostbar, sinnlich“ im Grassi Museum Leipzig schrieben, können Begriffe wie Jugendstil, Art Déco oder Funktionalismus kontraproduktiv sein, verwirren und dazu veranlassen, in Schubladen zu denken. Das kann man nicht. Und das sollte man sicherlich nicht. Dies wird beim Rundgang durch „Deutschland gegen Frankreich“ sehr deutlich. Es gibt keine klar definierten Umstellungen, es ist ein ununterbrochenes Fortschreiten.
Neben Möbeln und Arbeiten aus dem Bereich der Angewandten Kunst präsentiert „Deutschland gegen Frankreich“ auch Plakatdesign, Malerei und Skulpturen aus jener Zeit und unterstützt die ausgestellten Arbeiten mit Fotos und Videos. Eine besonders schöne Szene ist der Vergleich zwischen dem Pariser und dem Berliner U-Bahn-System. Zu besagter Zeit war es so, dass die neu gebauten Stadtbahnnetze größtenteils von den damaligen Stilen dominiert wurden und so eine dauerhafte Verbindung zwischen dem frühen 20. Jahrhundert und heute bilden.
Einen besonders intelligenten Beitrag zu der Ausstellung leisten die vielen Zitate von wichtigen Persönlichkeiten, die die Wände der Ausstellungsräume zieren wie Erörterungen von Fußball-TV-Experten. Nur bedeutungsvoller, überlegter und intelligenter. Es gibt auch Zitate, die (entweder das eine oder beides) benachbarte Objekte in Verbindung bringen oder es den Besuchern ermöglichen die Ausstellung und die Ausstellungsstücke in ihrem weiteren Kontext zu verstehen. Diese Wirkung wird gekonnt mithilfe der Kurztexte für die 20 Bereiche erzielt, in die die Ausstellung aufgeteilt ist.
Beim Rundgang durch „Deutschland gegen Frankreich“ fragt man sich unweigerlich, wie solch ein Wettbewerb wohl heutzutage ausgehen würde. Wir vermuten, dass Konstantin Grcic und Ronan und Erwan Bouroullec die Kapitäne wären und die Beziehung so freundschaftlich wie damals weitergehen würde. Beide haben ihre eigenen Projekte, ihren eigenen Ansatz und ihr eigenes Verständnis in Bezug auf Design, bilden gemeinsam aber auch die Grundsteine für die Portfolios vieler internationaler Hersteller wie Vitra, Magis oder Mattiazzi und kooperieren somit genauso wie sie konkurrieren. Hinter den Kapitänen hat Deutschland gerade mehr erfahrene Talente und vor allem die besseren Jugendförderprogramme und so langfristig bessere Aussichten. Es ist zu sehen, dass Deutschland ab 1900 in Kunst- und Designschulen investiert hat, während Frankreich es nicht tat und heute größtenteils immer noch nicht tut.
„Deutschland gegen Frankreich“ ist eine sehr klassische, museale Ausstellung und somit sehr zugänglich, leicht nachvollziehbar, klar angelegt und so ordentlich wie gemütlich. Die Ausstellung erklärt nicht nur kompetent einige der großen Momente jener Zeit, sondern lässt aufgrund der Gegenüberstellungen von Objekten und Protagonisten auch Vergleiche zu, die oft mehr erklären als jeder Text.
Die europäische Architektur- und Designgeschichte von 1900 bis 1930 beschränkt sich natürlich nicht auf Frankreich und Deutschland und dies behauptet das Bröhan-Museum auch nicht. Indem nur zwei Länder thematisiert werden, entsteht jedoch eine überaus verständliche Ausstellung, die der Besucher genießen kann, ohne unnötig von Details, Philosophien oder Abseitsregeln unterbrochen zu werden.
Was hofft Tobias Hoffmann, werden die Besucher aus der Ausstellung mitnehmen? „Dass sie verstehen, wie sehr die beiden Länder voneinander profitiert haben, dass Deutschland und Frankreich lange Zeit nicht mit und nicht ohne den anderen leben konnten, dass sie abhängig voneinander waren und dass wir dieses Bewusstsein heute in Europa mehr als je zuvor brauchen.“
Wir zweifeln daran, dass das Fußballturnier das schaffen wird, die Ausstellung im Bröhan-Museum könnte es erreichen.
„Deutschland gegen Frankreich. Der Kampf um den Stil 1900-1930 läuft bis Sonntag, den 11. September im Bröhan-Museum, Schloßstraße 1a, 14059 Berlin.
Alle Details, inklusive Informationen zu dem begleitenden Rahmenprogramm gibt es auf www.broehan-museum.de.