„Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise; eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden.“ 1
Obgleich diese Aussage im Jahr 1872 verfasst wurde, ist Friedrich Engels Analyse der städtischen Wohnsituation so gegenwärtig wie eh und je. In Europa gibt es vielleicht nicht mehr die ständig überfluteten, fensterlosen Kellerwohnungen, die im wahrsten Sinne des Wortes die niedrigste Stufe des städtischen Wohnraums im 19. Jahrhundert waren. Aber unsere modernen Hightech-Städte leiden noch immer unter der Knappheit erschwinglichen, hygienischen Wohnraums, in dem die Bewohner eine gewisse Sicherheit in Bezug auf Mietverhältnis und Privatsphäre haben. Außerhalb Europas gehören die ständig überfluteten, fensterlosen Kellerwohnungen, oder zumindest ihr lokales Äquivalent, nach wie vor zur Realität.
Aber was können wir tun? Unsere Städte abreißen und neu aufbauen ist keine Option. Was sollen wir also tun?
Als Teil des Programms „100 Jahre Gegenwart“ zeigt das Haus der Kulturen der Welt in Berlin die Ausstellung „Wohnungsfrage“, eine Darlegung der gegenwärtigen Wohnraumsituation und eine Präsentation einiger möglicher Lösungen.
Der Name der Ausstellung nimmt Bezug auf Friedrich Engels Veröffentlichung „Zur Wohnungsfrage“ aus dem Jahre 1873. Die Texte wurden ursprünglich als eine Reihe von Essays im Leipziger „Volksstaat“ veröffentlicht und thematisieren umfassend die städtischen Unterkünfte für Arbeiter in der späteren zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und insbesondere Engels Kritik an den Lösungen, die zu der Zeit vorgeschlagen wurden. Engels zufolge entstand das Problem zu dieser Zeit in erster Linie wegen des starken Zustroms der ländlichen Bevölkerung in schlecht vorbereitete Stadtzentren.
Und heute? Woher kommt das gegenwärtige Wohnungsproblem? Ist es, wie im 19. Jahrhundert, größtenteils eine Frage des demografischen Wandels?
„Die heutige Situation kommt nicht vom demografischen Wandel“, so der Co-Kurator der Ausstellung, Jesko Feuer, „hier in Deutschland haben wir keine Bevölkerungsexplosion, auch die Belastungen durch Migration sind weit davon entfernt, die Bevölkerungszahlen dramatisch zu verändern. Viel mehr kann sie auf systematische Fehler von Seiten der Politiker und das Vertrauen in eine falsche Ideologie zurückgeführt werden, nämlich den Glauben daran, dass die Privatisierung des sozialen Wohnungsbaus den Markt ankurbeln und zu ausreichend Wohnraum für Geringverdiener führen könnte. Das wurde nicht umgesetzt, eher ist der Anteil an erschwinglichem Wohnraum gesunken, während der Bedarf gestiegen ist.“
Zwei Ursachen, eine Konsequenz.
Friedrich Engels benannte drei Gruppen, die, theoretisch, dazu in der Lage waren, das Wohnungsproblem des späten 19. Jahrhunderts zu lindern: die Kapitalisten, die aber kein Interesse an der Lösung des Problems hatten; die Politiker, die aber kein Interesse an der Lösung des Problems hatten und die Arbeiter selbst, die nicht dazu in der Lage waren, das Problem zu lösen.
Ähnlich hat auch Jesko Fezer wenig Glauben an Politiker und die Bauindustrie: „Ich denke, es wäre ein Fehler darauf zu warten, bis eine gutgesinnte Baufirma ein gutes Projekt vorschlägt. Ich denke, es wäre ein Fehler zu hoffen, dass eine Investmentfirma, die nach dem Prinzip einer guten Kapitalrendite agiert, sich an sozialen Wohnungsbauprojekten beteiligt und es ist auch ein Fehler zu warten, bis Lokalpolitiker oder lokale Behörden ernsthafte Programme durchführen.“ Als dritte Alternative sieht Jesko Fezer, eher als die Betroffenen selbst, viel mehr die stärkere Integration und Einbeziehung von städtischen Initiativen und zivilen Interessenvertretern in die Fragen des Wohnungsbaus, etwas, das für Jesko Fezer auch „die Entwicklung neuer Modelle zum Bau, zur Planung und zur Finanzierung von Wohnraum“ beinhaltet.
Der zentrale Aspekt von „Wohnungsfrage“ sind genau solche neuen Modelle.
Für die Ausstellung taten sich vier deutsche Basisinitiativen mit jeweils einem internationalen Architekturbüro zusammen und wurden gebeten eine Lösung zu entwickeln. Diese sollten Fragen behandeln und angehen, wie die, wer entscheidet, wie und was gebaut werden soll und wie wir am besten erschwinglichen, sozial verantwortlichen und autonomen Wohnraum erhalten können, der auf die Nutzer ausgerichtet ist. Kolabs, ein Zusammenschluss verschiedener, größtenteils studentischer Initiativen und das in Tokio ansässige Atelier Bow-Wow haben Urban Forest entwickelt. Der Prototyp für gemeinschaftliche Wohnräume ist besonders auf Studenten ausgerichtet. Die in Frankfurt ansässige Realism Working Group arbeitete mit Pier Vittorio Aureli und Martino Tattara, die auch als „Dogma“ bekannt sind, zusammen. Gemeinsam entwarfen sie eine Gemeinschaftsvilla für Künstler und andere Kreative, die das klassische Beispiel des Wohnens als Symbol für wirtschaftliche und soziale Macht in einem kollektiven Umfeld neu erfindet. Die Berliner Mietergemeinschaft Kotti & Co. und das in San Diego ansässige Estudio Teddy Cruz + Forman haben zusammen das Konzept „Gecekondu“ der Erstgenannten weiterentwickelt. Der provisorische hölzerne Pavillon entstand im Rahmen eines Protestcamps zum Thema Mieten und wurde zu einem behelfsmäßigen Pavillonsystem aus Stahl, das lokal angepasst werden kann. Zu guter Letzt, aber auf keinen Fall als Letztes, taten sich Stille Straße 10, ein selbstverwaltetes Gemeindezentrum in Berlin, und die Londoner Agentur Assemble zusammen und entwickelten gemeinsam ein Wohnkonzept für Senioren, das es den Bewohnern ermöglicht, als Mitglieder einer Gemeinschaft ein eigenständiges Leben zu leben.
Die Ergebnisse der Projekte werden im Maßstab 1:1 präsentiert und die Besucher werden dazu aufgefordert, die Lösungsvorschläge kritisch zu hinterfragen, sich ihre eigene Meinung zu dem Ansatz zu bilden und sich so tiefergehend mit den Fragen und Problemen auseinanderzusetzen. Die Kombination von internationalen Büros und deutschen Initiativen betont die beabsichtigte Universalität der Lösungsvorschläge.
Zusätzlich zu den architektonischen Projekten präsentiert „Wohnungsfrage“ auch Forschungsprojekte, historische Fallstudien und künstlerische Interventionen. All diese befassen sich mit den breiteren Themen der Ausstellung und bieten nicht nur neue Erkenntnisse und Perspektiven, sondern erweitern auch den Umfang der Ausstellung und unterstreichen Engels Aussage „Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches … im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig betroffen.“2
Es ist nicht unwichtig, dass die Ausstellung in der Berliner Kongresshalle, die das Haus der Kulturen der Welt ihr Zuhause nennt, stattfindet. Die Kongresshalle entstand als Teil der Interbau Bauausstellung im Jahre 1957. Die Ausstellung widmete sich neuen Konstruktionsmethoden, die es den Behörden ermöglichen würden, die schnell ansteigende europäische Bevölkerung der Nachkriegszeit zügig und effizient in hygienischen und funktionalen, zukunftsorientierten Objekten unterzubringen. Das Event Interbau 57 verschaffte Berlin nicht nur die Kongresshalle und das immer wieder großartige Hansaviertel mit seinen Gebäuden von, unter anderem, Alvar Aalto, Egon Eiermann, Oscar Niemeyer und Arne Jacobsen. Es ermöglichte Le Corbusier auch die Realisierung einer Unité d’habitation in der deutschen Hauptstadt – das einzige Beispiel außerhalb Frankreichs.
Mit seinem Konzept der Unité d’habitation suchte Le Corbusier gegenwärtige Lösungen zu Fragen des gegenwärtigen Wohnens basierend auf den Bedürfnissen gegenwärtiger Nutzer. Dass wir nicht alle die Le Corbusier’sche Utopie leben und noch immer ungelöste Wohnraumprobleme haben, zeigt deutlich, dass nicht alle Ideen von Architekten auch umgesetzt werden und dass auch politisches Handeln erforderlich ist. Oder anders gesagt, es ist nicht wichtig, wie groß dein Wortschatz ist und wie souverän du mit klugen Worten umgehen kannst, wenn dir eigentlich niemand zuhört.
Und genau darin liegt das stete Problem von Ausstellungen wie Interbau oder „Wohnungsfrage“. Wandel ist auf politische Unterstützung angewiesen, oder zumindest auf große Unterstützung aus der Bevölkerung, die den Politikern anschließend keine Alternative lässt. Keine Ausstellung wird dies erreichen. Niemals. Das bedeutet natürlich nicht, dass man es nicht versuchen sollte, es bedeutet aber, dass man realistisch darüber denken sollte, was man erreichen kann. Und man sollte seine Ausstellung ideal konzipieren, um ein so gemischtes Publikum wie möglich zu erreichen und so hoffentlich etwas zu säen, was später zu einem Handeln der Bevölkerung erwächst. Niemand, wirklich niemand braucht eine Architekturausstellung, die nur von Architekten besucht wird, die sich am Kinn kratzen und wissend nicken, während sie durch die Räume schlendern.
Zufällig ist „Wohnungsfrage“ eine sehr zugängliche und gut aufbereitete Ausstellung, die auf vielen verschiedenen Ebenen verstanden und betrachtet werden kann. Sie präsentiert einen ehrlichen und informativen Überblick über das Thema und, was vielleicht am Wichtigsten ist, animiert die Besucher sich mit der gegenwärtigen Wohnraumsituation zu beschäftigen.
Und ja, die Ausstellung nimmt eine linksgerichtete Anti-Gentrifizierungs- und Pro-Gemeinschaftsposition ein. Man findet zum Beispiel keine Argumente für die Ausweitung privaten Wohneigentums oder für die Bebauung von Grünflächen als Lösungen für die Probleme. Dennoch ist es keine politische Ausstellung, es gibt keine Slogans oder Ideologie, die es zu durchkämpfen gilt. Der Fokus liegt auf den ausgestellten Projekten, nicht auf deren politischer Verbindung.
Außerdem kann es für ein so weitreichendes Thema wie das des Wohnungsbaus und/oder der Stadtplanung nicht eine perfekte Lösung geben, nur Ideen, die mehr oder weniger erfolgreich sind. Das ist etwas, das Friedrich Engels nicht verstanden hat, der so die Seiten des Leipziger Volksstaats dazu nutzte, jeden Lösungsvorschlag zurückzuweisen und schlechtzumachen, während er in wahrer Engels’scher Manier alle fünf Absätze darauf bestand, dass nur seine Lösung funktionieren würde und könnte.
Die Organisatoren von „Wohnungsfrage“ sind glücklicherweise weniger dogmatisch und realistischer. Parallel zur Ausstellung veranstaltet „Wohnungsfrage“ auch eine Reihe von Gesprächen und Debatten sowie eine einwöchige Akademie, im Rahmen derer die aktuelle Situation diskutiert werden soll und mögliche künftige Methoden vorgeschlagen werden sollen. Zusätzlich wird eine Reihe von Texten zum Thema Wohnungsbau und der Wohnungsbausituation veröffentlicht um eine breitere, offenere Debatte anzuregen. Die Reihe beinhaltet zeitgenössische Texte und historische Texte wie „Das wachsende Haus“ von Martin Wagner, „Co-op Interieur“ von Hannes Meyer und natürlich „Zur Wohnungsfrage“.
All das lässt nur eine Frage unbeantwortet.
In seinen Originaltexten erwähnt Friedrich Engels wiederholt, dass das Wohnungsbauproblem nur eine Nebenerscheinung der kapitalistischen Produktion ist und dass es als solches nur durch eine soziale Revolution und die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise gelöst werden kann.
Kann die Ausstellung somit als Aufruf zur Revolution angesehen werden?
„Engels hatte 100% recht, als er die Wohnungssituation als Symptom beschrieb. Das Problem, das wir heute haben, ist das Symptom eines neoliberalen Wirtschaftssystems und Veränderungen in der Wohnungssituation erfordern Veränderungen auf sozialer und politischer Ebene“, so Jesko Fezer. „Wir würden trotzdem behaupten, dass die Wohnungsfrage mehr als ein Symptom ist, sie kann auch ein Ansatzpunkt sein. Es gibt im Bereich des Wohnungsbaus viele Beispiele, sich neue Gesellschaften vorzustellen, neue Wege des Zusammenlebens zu entwickeln, alternative Wirtschaftssysteme, die als Beispiele für andere Bereiche dienen können.“
Das Wohnungsbauproblem lösen und dadurch die anderen Krankheiten der Gesellschaft heilen. Wir können uns nicht vorstellen, dass Friedrich Engels von so einem Argument besonders beeindruckt gewesen wäre. Aber dann hat Engels nie wirklich die Bedeutung des Dialogs verstanden. „Wohnungsfrage“ schon und die Ausstellung lädt alle zur Teilnahme ein. Auch Anhänger des Proudhonismus.
„Wohnungsfrage“ läuft bis Montag, den 14. Dezember im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Die Ausstellung präsentiert sich in deutscher und englischer Sprache. Die Begleittexte wurden in deutscher und englischer Sprache von Spector Books, Leipzig veröffentlicht.
Alle Details zur Ausstellung, dem begleitenden Rahmenprogramm und den Veröffentlichungen gibt es auf www.hkw.de.
1.Friedrich Engels, Zur Wohnungsfrage: die grundlegende Schrift zur Wohnungsfrage im kapitalistischen Staat und in der Übergangszeit, Oberbadischer Verlag, Singen
2. ebd.
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