Wer Interesse daran oder das Verlangen danach hat zu verstehen, wie Historismus in den Bereichen Architektur, Kunst und Design an den Modernismus abgetreten wurde, könnte Schlimmeres tun, als in diesem Winter eine Deutschlandreise zu unternehmen.
Im Anschluss an die Eröffnungen der Ausstellungen „Jugendstil. Die große Utopie“ im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg und „Das Bauhaus #allesistdesign“ im Vitra Design Museum, hat das Grassi Museum für Angewandte Kunst Leipzig nun mit seiner neuen Ausstellung „Art déco. Elegant, kostbar, sinnlich“ die Lücke geschlossen.
Das heißt, falls „die Lücke geschlossen“ der richtige Ausdruck ist …
Es ist nur logisch, dass das Grassi Museum Leipzig eine Ausstellung zeigt, die sich dem Art déco widmet. Nicht nur, dass die Epoche einen zentralen Schwerpunkt in der Sammlung des Museums bildet und das jetzige Gebäude des Grassi Museums in den frühen 1920er Jahren erbaut worden ist und zahlreiche Ansätze aus dem Art déco aufzeigt. Mit der Pfeilerhalle hat das Grassi Museum Leipzig einen der wohl prachtvollsten Art-déco-Räume in Deutschland vorzuweisen. Und natürlich findet „Art déco: Elegant, kostbar, sinnlich“ hier statt.
Mit etwa 450 ausgestellten Objekten aus der museumseigenen Sammlung ist die Ausstellung, auch wegen der Beschaffenheit der Pfeilerhalle, eine Kabinettausstellung. Dennoch ermöglicht die Ausstellung dem Besucher, sich dem Art déco trotz der dem Platz geschuldeten Einschränkungen auf informiertere und kritischere Weise zu nähern, als es normalerweise der Fall ist.
Die rechte Seite des Gebäudes zeigt ausschließlich deutsche Werke, inklusive Objekte von Designern wie Richard Süßmuth, Paul Scheurich und Ludwig Gies neben Herstellern so vielfältig wie zum Beispiel die Staatliche Porzellan-Manufaktur Meissen, Ruppelwerk Gotha, WMF und Kodak. Letzteres Unternehmen wird durch Walter Dorwin Teagues Beau Brownie Kameras repräsentiert. Die linke Seite widmet sich Objekten aus Österreich, Frankreich, Italien, Skandinavien, der Tschechoslowakei, Holland und Großbritannien, inklusive Werken von Menschen wie Josef Hoffmann, Harald Nielsen oder William Hutton & Sons, Sheffield. Diese kuratorische Entscheidung dient nicht nur dazu, den internationalen Charakter der Bewegung zu unterstreichen, sondern auch, einen internationalen Vergleich zwischen Materialien, Stilen und Verfahren zu ziehen.
Es ist sehr einfach, Art déco als die überflüssige Bewegung zwischen den Kriegsjahren einzuordnen. Oder tatsächlich als ein etwas überanspruchsvolles Theorisieren von Nachkriegskunsthistorikern, die begierig darauf sind, die bereits fragmentierte Geschichte von Architektur und Kunst noch weiter zu unterteilen. Die Modernisten hätten, so denkt man, ihren Weg aus dem Jugendstil heraus mit oder ohne die Entwicklung von formalen und ästhetischen Ideen gefunden, die über die des Jugendstils hinausgingen und manchmal auch gegensätzlich waren, sie brauchten dieses Sprungbrett nicht. Dennoch kann man beim Betrachten von „Elegant, kostbar, sinnlich“ viele der Objekte als Zwischenprodukt zwischen den fließenden, organischen Formen des Jugendstils und den streng geometrischen des Modernismus ansehen und so die durchgeführten Experimente als hilfreich, nützlich und ja, wichtig, verstehen.
Ja, manche Objekte sind unnötig verspielt, einige fürchterlich überstyled, andere zu stark verziert oder sie versuchen anderweitig zu sehr, einen von ihrer Authentizität zu überzeugen. Dennoch sieht man in der Mehrheit der Objekte Ansätze, organischen Einflüssen eine Strenge zu verleihen. Objekte, die eher versuchen, den Zeitgeist einzufangen, als ihm Leben einzuhauchen und sogar Objekte, bei denen Verzierungen jeglicher Art so verpönt sind, wie ein nach Krabbencocktail schmeckender Kartoffelchip bei einem Puritaner. Außerdem ist es sehr offensichtlich, dass Form und Funktion zusammenhängen. Während im Jugendstil leblose Objekte grundsätzlich wie Tiere oder Pflanzen gestaltet werden, sind in „Elegant, kostbar, sinnlich“ die einzigen Objekte, die die Form eines Tieres haben, Tiere. Die Vasen sind Vasen, die Zigarettenschachteln sind Zigarettenschachteln, die Buchstützen sind Buchstützen.
Die Begleittexte erklären nur oberflächlich die Zusammenhänge und Widersprüche, was vorher geschah und was noch kommen wird. Daher ist es für jemanden, der seine Entdeckungsreise durch diese Epoche beginnt, wahrscheinlich ratsam, an einer geführten Tour durch die Ausstellung teilzunehmen, oder sich die Dauerausstellung genau anzuschauen, bevor er die Pfeilerhalle betritt. Für alle anderen bietet „Art déco: Elegant, kostbar, sinnlich“ einen sehr schönen, prägnanten Überblick und zeigt eine klare Demonstration der verschiedenen Positionen zu Art déco und seinen Platz in der Entwicklung von Kunst, Design und Architektur.
Da Art déco, Jugendstil und Modernismus alle, in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung, parallel zueinander abliefen, ist es nicht schwer, die Orientierung zu verlieren und unsicher zu sein, wo man sich befindet und welchen Stil man gerade sieht … und das ist letztlich die wichtigste Lektion von „Elegant, kostbar, sinnlich“: Das macht nichts. Labels mögen in Lagerhallen und Ablagesystemen wichtig sein oder Magazinartikel leichter verständlich machen, in den Bereichen Kunst, Architektur und Design können sie jedoch kontraproduktiv sein. Sie können vom kulturellen und sozialen Wert eines Objekts ablenken, von den Informationen, die ein Objekt uns über die berufliche Entwicklung eines Designers, Künstlers oder Architekten gibt und von dem, was ein Objekt uns darüber erzählen kann, wie, warum und wann Ideen von Form, Funktion und Ästhetik entstanden sind und sich entwickelt haben.
Oder, um auf unsere Einleitung zurückzukommen, es gab gar keine Lücke, die man schließen musste, keine fehlende Verbindung in unserer ästhetischen Evolution, nur verschiedene Entwicklungswege, die erklärt und entdeckt werden mussten. Wenn man das einmal verstanden hat, wird die Geschichte zeitgenössischer Architektur und zeitgenössischen Designs viel weniger einschüchternd.
Und es ist eine Erkenntnis, die einen verstehen lässt, dass die Pfeilerhalle nicht einer der prachtvollsten Art-déco-Räume in Deutschland ist. Sondern einer der prachtvollsten Räume der späten 1920er Jahre in Ostdeutschland.
„Art déco: Elegant, kostbar, sinnlich“ läuft im Grassi Museum für Angewandte Kunst, Johannisplatz 5-11, 04103 Leipzig bis Sonntag, den 3. April. Alle Details, inklusive Informationen zu dem begleitenden Rahmenprogramm gibt es auf www.grassimuseum.de.
Einige Eindrücke:
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