„Ich beabsichtige, das Institut so zu leiten, dass es auf handwerklichem Gebiet sein Bestes leisten wird, und es so zu fördern, dass es in künstlerischer Hinsicht allen Anforderungen moderner Kunstauffassung gerecht wird.“1 So schrieb der Architekt Paul Thiersch im Jahr 1914 in seiner Bewerbung für den freien Posten des Direktors der Handwerkerschule der Stadt Halle.
Ein Argument, das bei der Auswahl offensichtlich sehr gut ankam, wurde Paul Thiersch doch im Juli 1915 unter insgesamt 75 Bewerbern ausgewählt und zum neuen Direktor der Schule ernannt – eine Ernennung, mit der ein Prozess losgetreten wurde, der schließlich zur heute als Burg Giebichenstein bekannten Kunsthochschule Halle führen sollte.
Der 1879 in München in eine etablierte Familie von Architekten und klassischen Gelehrten geborene Paul Thiersch studierte Architektur an der Technischen Hochschule in München und arbeitete für das Münchner Stadtbauamt, bevor er 1906 zunächst nach Düsseldorf zog, um dort mit Peter Behrens zusammenzuarbeiten, und anschließend, im Jahr 1907, nach Berlin ging, wo er eine Stelle als Bürochef bei Bruno Paul antrat. Diesen Posten hatte er wiederum über 2 Jahre inne, bevor er nach Berlin ging und dort als freischaffender Architekt arbeitete.
Im Jahr 1913 starb der aktive Direktor der Handwerkerschule Halle, Herr Brumme, woraufhin die Stadtoberen beschlossen haben, dass der neue Direktor nicht nur mit der Leitung der Schule, sondern auch mit der Gestaltung der Zukunft der Schule betraut werden sollte.
Allem Anschein nach war es um die technische und handwerkliche Ausbildung im Deutschen Reich des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht gut bestellt: nicht nur hinsichtlich des Inhalts, sondern auch hinsichtlich der Organisation, der Leitung und der Professionalität. Mit der Industrialisierung, die die Art und Weise der Produktion veränderte, wurden Studenten in Deutschland nicht mehr die nötigen Fähigkeiten beigebracht. Eine Situation, die wohl damals dazu führte, die Wendung „Made in Germany“ als Synonym für schlechte Qualität zu etablieren. Und auch wenn Bäcker und Fleischer nach wie vor sehr gefragt waren, mangelte es an Kerzenmachern, die in der Lage gewesen wären, Kerzen zu entwickeln, die sich industriell produzieren ließen.
Katja Schneider zufolge wollte Halles Bürgermeister den Posten gerne Henry van de Velde anbieten, allerdings durchkreuzte dessen Rückkehr nach Belgien diesen Plan und so wurde der Posten neu ausgeschrieben. Großen Einfluss auf die Ernennung Paul Thierschs hatte wohl die Lobbyarbeit des Architekten Gustav Wolff4, ein Mann, der in dieser Zeit für viele wichtigen Projekte der Stadt verantwortlich war und zu den wichtigsten Figuren im örtlichen Kunst- und Handwerksgewerbe gehörte.
Andere Quellen beziehen sich eher allgemein auf den Einfluss von Peter Behrens und Bruno Paul bei der Entscheidungsfindung – oder zumindest darauf, dass die Entscheidung durch Thierschs Bekanntschaft mit Behrens und Paul begünstigt wurde.
Sieht man von den Gründen für die Entscheidung für Thiersch einmal ab, steht fest, dass Paul Thiersch unmittelbar seine versprochenen Reformen anging und im frühen August 1915 seine Pläne präsentierte. Dazu gehörte die Unterteilung der Schule in vier Bereiche: angewandte Kunst, Handwerk, Architektur und Maschinenbau.5 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass während die anderen drei Bereiche einfach auf einer Neuorganisation von bereits existierenden Bereichen basierten, die angewandte Kunst ein gänzlich neuer Bereich war. Neben der Lehre war er darauf ausgerichtet, den Studenten die Praxis einer neuen Industrie zugänglich zu machen, in der sie sich schließlich einmal tätig sein würden. So sollte Lehre mit Arbeit verbunden werden, was – darauf hatte Thiersch bereits in seiner Bewerbung hingewiesen – an allen neuen Kunst- und Handwerksschulen mit großem Effekt praktiziert wurde. Zudem führte Thiersch Spezialklassen ein, die mit Werkstätten verbunden waren. So hatte die Schule bald eine Interieurdesign- und eine Architekturklasse mit einer Schreinerwerkstatt, eine Textilklasse mit einer Webwerkstatt und eine Grafikklasse mit Werkstätten für Buchbindung und Druck, was die Verbindung von Kunst und Gewerbe belebte. Folglich, und auch wenn die Hallenser Schule keineswegs einen besonderen Ruf hinsichtlich seines Lehrprogramms hatte, hatte die Schule jetzt eine zeitgenössische Struktur und einen zukunftsbezogenen Schwerpunkt, der der Schule erlauben sollte, eine führende Institution in der Lehre und eine wichtige Komponente bei der Weiterentwicklung der Herstellung von Technologie und Kunst in Deutschland zu werden.
Dann, und nicht zum letzten Mal, kam der Krieg dazwischen. Auch wenn Thierschs Arbeit weiterging und seine Reformen voranschritten, trugen sie erst in den 1920er Jahren Früchte. Damit hing vor allem auch der Umzug der Schule in die historische Burg Giebichenstein, „hoch“* über der Saale, zusammen. Dieser Schritt brachte den Studenten mehr Raum und neue Freiheiten, verhalf der Schule zu einer neuen Identität und schließlich zu einem neuen Namen.
Während der 1920er und 30er Jahre gewann die „Burg“ an Reputation, und so kam keine wichtige Messe oder Veranstaltung ohne die Burg Giebichenstein aus. Dazu gehört beispielsweise eine Präsentation im Kontext der Ausstellung der Weissenhofsiedlung 1927 in Stuttgart, eine ganz besondere Ehrung für eine Institution, die weder mit dem Bauhaus noch mit dem Land Baden-Württemberg zusammenhing.
Zudem wurden Arbeiten der Studenten und der Lehrenden in den 1920er und 30er Jahren regelmäßig in Museumsausstellungen präsentiert und in immer mehr Sammlungen aufgenommen.
Nach dem Umzug des Bauhaus von Weimar nach Dessau im Jahr 1926 und dem damit verbundenen Verlust der Keramikwerkstatt sowie Veränderungen im Lehrprogramm, wechselten zahlreiche Bauhäusler nach Halle – nennenswert ist hier der Bildhauer Gerhard Marcks, der anfänglich Leiter der Bildhauer Klasse war und dann 1928 Paul Thiersch als Direktor der Burg Giebichenstein ablöste.
Eine Ära ging zu Ende, und eine neue begann …
Die Machtergreifung der NSDAP war bekanntlich von Attacken auf die künstlerische Freiheit, strikte Beschränkungen der künstlerischen Form und ideologische Kontrolle der Lehrinhalte begleitet. Eine Konsequenz war, dass ab 2. Juni 1933 der Bereich Handwerk vom künstlerischen Bereich getrennt wurde6, ein Schritt, der das Prinzip nach dem Paul Thiersch die Schule aufgebaut hatte, zerstörte. Hinzu kamen die Bestimmungen bezüglich „nicht Deutscher“. Sie führten dazu, dass die Institution viele ihrer wichtigsten Mitarbeiter verlor – dazu gehörten unter anderen Erich Dieckmann, Marguerite Friedlaender-Wildenhaín, Erwin Hahs, Benita Koch-Otte und Gerhard Marks. So hörte die Burg Giebichenstein im Lauf des Jahres 1933 im Grunde auf zu existieren.
Während der Jahre der Nazidiktatur und des Krieges waren die Aktivitäten der Schule weitestgehend eingeschränkt und die Schule nach der Vorstellung der Nationalsozialisten als normale Handwerksschule geführt.
Dann kam die DDR.
Die Jahre direkt nach dem Krieg waren von einem langsamen Wiederaufbau und einer schleppenden Neuorganisation bestimmt. Ein Prozess der durch die Probleme und Unklarheiten der sogenannten Formalismusdebatte in den frühen 1950er Jahren erschwert wurde, bevor dann 1958 die Hochschule für industrielle Formgestaltung Halle Burg Giebichenstein unter der Leitung des Grafikdesigners und Bauhäuslers Walter Funkat gegründet wurde. Als Institution ihrer Zeit war die DDR Burg auf die Unterstützung der industriellen Nachfrage der DDR-Regierung fokussiert, oder wie es im Jahr 1968 eine interne Publikation formulierte: „Der gesellschaftliche Auftrag verpflichtete unsere Hochschule, den neuen Typ des sozialistischen Formgestalters zu bilden und zu erziehen, der fähig und gewillt ist, umfassendes Wissen und Können in seinem Beruf für den Aufbau des Sozialismus einzusetzen.“7
Trotz solch hochtrabenden, sozialistischen Unsinns und den Bürokraten, die ihn propagierten, gelang es der Burg Giebichenstein zwischen 1958 und 1989 einige wirklich exzellente Studenten und Arbeiten hervorzubringen, woran das hochqualifizierte Lehrpersonal großen Anteil hatte. Dazu gehörten unter vielen anderen Erwin Andrä, Rudolf Horn, Ilse Decho und Lothar Zitzmann. In vielerlei Hinsicht ist es dieser fortlaufenden Arbeit der Hochschule für industrielle Formgestaltung zu verdanken, dass die Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle nach der Wiedervereinigung sofort in der Lage war, als funktionierende Institution weiter zu bestehen und anschließend ihre derzeitige internationale Reputation und vor allem ihre Position als eine der führenden Schulen für Design und Angewandte Kunst zu etablieren.
Selbst wenn die Ernennung Paul Thierschs als Direktor nur ein Moment in der Geschichte der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle war, wollen wir dennoch mit einem „Happy Birthday, Burg Gibichenstein“ an den ersten Juli 1915 erinnern.
… und hoffen, dass die nächsten 100 Jahre nicht ganz so turbulent ausfallen.
* Es mögen nur 87 Meter sein, aber das ist hoch für Halle.
1. Zitiert in, Katja Schneider, „Burg Giebichenstein: die Kunstgewerbeschule unter Leitung von Paul Thiersch und Gerhard Marcks 1915 bis 1933. 1. Textband“, VCH, Acta Humaniora, Weinheim, 1992
2. Wilhelm Nauhaus, „Die Burg Giebichenstein Geschichte einer deutschen Kunstschule; 1915 – 1933“, Seemann, Leipzig, 1992
3. Katja Schneider, „Burg Giebichenstein: die Kunstgewerbeschule unter Leitung von Paul Thiersch und Gerhard Marcks 1915 bis 1933. 1. Textband“, VCH, Acta Humaniora, Weinheim, 1992
4. ebd.
5. Wilhelm Nauhaus, „Die Burg Giebichenstein Geschichte einer deutschen Kunstschule; 1915 – 1933“, Seemann, Leipzig, 1992
6. Gottfried Kormann, Meisterschule des deutschen Handwerks. Die Schule zwischen 1933 und 1945, in Renate Luckner-Biehn, „75 Jahre Burg Giebichenstein: 1915 – 1990; Beiträge zur Geschichte“, Burg Giebichenstein, Halle, 1989
7. Hochschule für Industrielle Formgestaltung Halle/S., Burg Giebichenstein, Halle 1968