Der sogenannte „Teepott“ an der Promenade in Warnemünde an der Ostsee ist ein außergewöhnliches und kostbares Gebäude.
Nicht nur wegen des krassen Kontrasts zum Leuchtturm aus dem 19. Jahrhundert direkt daneben und auch nicht, weil es so harmonisch die fließenden Formen der Dünen und des Wassers hinter sich aufgreift. Es liegt auch nicht daran, dass einen der „Teepott“ an Arbeiten von Eero Saarinen, Pier Luigi Nervi oder Félix Candela erinnert, auch wenn er geografisch mit solchen Arbeiten in keinem Zusammenhang steht.
Vielmehr ist der „Teepott“ so außergewöhnlich und kostbar, weil er ein Gebäude des deutschen Ingenieurs Ulrich Müther ist, das noch in Gebrauch ist – eines von tragischerweise sehr wenigen Gebäuden von einem der interessantesten Architekten Ostdeutschlands, das noch benutzt wird.
Geboren am 21. Juli 1934 in Binz auf der Ostseeinsel Rügen als Sohn eines örtlichen Architekten und Konstrukteurs, gehörte Ulrich Müther zu einer Generation von Ostdeutschen, die unter der beschränkten DDR-Logik leiden mussten: So war es Kindern von Akademikern und Selbstständigen häufig nicht möglich zu studieren – Kinder der Arbeiterklasse und aus der Landwirtschaft wurden bevorzugt.
So wurde Ulrich Müther ursprünglich als Tischler ausgebildet, bevor er die technische Hochschule Neustrelitz absolvierte und anschließend einen Posten im Ministerium für Aufbau in Berlin innehatte, wo er an der Planung von Kraftwerken beteiligt war. Parallel zu seiner Arbeit in Berlin absolvierte Ulrich Müther ein Fernstudium in Bauwesen an der Technischen Hochschule Dresden. Seine Abschlussarbeit schrieb er über die sogenannten hyperbolischen Paraboloide, oder Hyparschalen – ein mathematisches Konstruktionsprinzip, das sogenannte dünnwandige Betonschalen mit einschloss. Grundsätzlich ging es dabei um sattelförmige Konstruktionen, die aufgrund ihrer inneren Kräfteverhältnisse einen hohen Grad an Stabilität bei minimalem Einsatz von Materialien bieten.
Nach dem Abschluss seiner Studien kehrte Ulrich Müther 1963 nach Rügen zurück um das laufende Familiengeschäft – zumindest das, was davon übrig war – zu übernehmen. Die ostdeutschen Behörden hatten das zuvor privat geführte „Baugeschäft Willy Müther“ in das Kollektiv „PGH Bau Binz“ überführt. Müthers erster Auftrag mit der PGH Bau Binz war ein Dach für das sogenannte „Haus der Stahlwerker“, ein Feriendomizil in Binz. Den Auftrag realisierte er mit einer 14 mal 14 Meter großen und 7 Zentimeter schmalen Hyparschalenkonstruktion – eine wunderbar zurückhaltende, fast klassische Konstruktion. Man kann sie sich als vier Giebeldächer vorstellen, die in einer einzigen Einheit miteinander verbunden sind. Im Jahr 1966 war Müther dann an der Konstruktion einer neuen Ausstellungshalle für die Rostocker Handelsmesse beteiligt. Der für die Austellungshalle verantwortliche Architekt war ein gewisser Erich Kaufmann – Chefarchitekt der regionalen Wohnungsbaugenossenschaft. Dieser war so beeindruckt von Müthers Arbeit für die Ausstellungshalle, dass er ihn anschließend mit zahlreichen Aufträgen betraute, darunter auch der Teepott in Warnemünde.
Als beliebter Treffpunkt an Warnemündes Promenade seit den 1920er Jahren wurde der originale Teepott während des Krieges fast vollständig zerstört. Dennoch nutzten Anwohner die Überreste als provisorischen Treffpunkt. In Reaktion auf den offensichtlichen Wunsch nach einem dauerhaften Teepott, beschlossen die Behörden einen Ersatz zu bauen, der Teil der Feierlichkeiten des 750. Geburtstages des Hansahafens Rostock im Jahr 1968 werden sollte. Zur Vervollständigung von Erich Kaufmanns grundsätzlich runden Struktur entwickelte Ulrich Müther eine fließende 12000 Quadratmeter große Dachkonstruktion, die aus drei gebogenen Betonschalen von jeweils nur 7 cm Dicke bestand 1. Auch wenn Ulrich Müther also eigentlich nicht gänzlich für das Gebäude verantwortlich war, verlieh er dem neuen Teepott doch sein wichtigstes Charakteristikum und den Charme, und muss so, wenn nicht als „biologischer Vater“, als geistiger Vater gelten.
Nach dem Teepott realisierte Ulrich Müther eine weite Bandbreite von Projekten: von Mehrzweck- und Sporthallen über Restaurants, Supermärkte, bis hin zu Kirchenbauten, Bushaltestellen und – vielleicht am beeindruckendsten – zwei Rettungstürmen am Strand von Binz. Dabei handelt es sich um zwei weltraumartige Konstruktionen; und Arbeiten die Funktionalität, Ästhetik und ökonomische Konstruktionsprinzipien auf eine Art und Weise miteinander verbinden, von der die Bauhäusler und ihre modernen Gefolgsleute nur hätten träumen können.
Neben zahlreichen Projekten in ganz Ostdeutschland finden bzw. fanden sich Arbeiten von Ulrich Müther in so unterschiedlichen Ländern wie Kuba, Jordanien, Kuwait, Finnland und sogar Westdeutschland.
Ein besonderer Schwerpunkt von Ulrich Müthers Werk sind Planetarien: Die Kuppeln sind perfekt geeignet für die Sorte von dünnen Schalen, auf die Ulrich Müther spezialisiert war. Schließlich war eine der ersten realisierten Konstruktionen mit dünnwandigem, doppelt gebogenem Gehäuse das Carl-Zeiss-Planetarium in Jena aus dem Jahr 1923 2. Und eben mit Carl-Zeiss Jena realisierte Ulrich Müther Planetarien in, neben anderen Orten, Tripoli, Wolfsburg, Meddelin, Ost-Berlin und Algerien. Carl-Zeiss lieferte die Technologie, Ulrich Müther die Kuppeln.
Ulrich Müther war nicht der einzige Ingenieur, der in der DDR mit dünnen Betonschalen arbeitete, er war allerdings der führende Protagonist bei der Arbeit mit doppelt gebogenen, hyperbolischen Paraboloiden. Die Mehrheit seiner Kollegen konzentrierte sich auf einfache Bögen und Gewölbe, und so war Ulrich Müther gewissermaßen dafür verantwortlich, ein gewisses internationales Flair in die DDR zu bringen, indem er Konstruktionen entwickelte, die der urbanen Landschaft eine neue Geometrie hinzufügten und die Behörden nicht allzu viel kosteten. Während seine Konstruktionen zwar ziemlich arbeitsintensiv bei der Realisierung waren, blieb der Materialaufwand relativ gering – eine Verbindung, die wunderbar zum Sozialismus passte, der über ausreichend Arbeitskräfte, aber wenig Geld verfügte.
Allerdings auch eine Kombination, die es Ulrich Müther nach dem Zusammenbruch der DDR schwer machte, Kunden für seine plötzlich sehr teuren Kreationen zu finden. Folglich ist es keine große Überraschung, dass die Müther GmbH Spezialbetonbau 1999 Pleite ging und Ulrich Müther in den wohlverdienten, wenn auch nicht gänzlich freiwilligen, Ruhestand ging. Als ein allem Anschein nach eher introvertierter, reservierter Mann verbrachte Ulrich Müther seine letzten Jahre in aller Ruhe auf Rügen, wo er im Jahr 2007 in seinem Heimatort Binz starb.
Auch wenn Ulrich Müther an über 60 Konstruktionen beteiligt war, weltweit Anerkennung für seine Arbeiten erhielt, die dünnwandige Schalenbauweise voranbrachte, für die ostdeutsche Regierung bitter nötige Devisen generierte und fast schon im Alleingang die quadratische Monotonie des ostdeutschen Stadtraums mit seinen eigenwilligen Spitzen, Punkten und Kurven durchbrach, blieb er weitestgehend unbekannt und geriet seitdem fast vollständig in Vergessenheit.
Welchen Respekt man den Arbeiten nach der Wiedervereinigung entgegenbrachte verdeutlicht wohl am besten das Schicksal des sogenannten Ahornblatts in Berlin. Das im Jahr 1973 als Selbstbedienungskantine und Veranstaltungsraum konzipierte Ahornblatt charakterisierte Ulrich Müthers Fünfpunkt-Dachkonstruktion, die dem Gebäude auch den Namen gab. Nach der Wiedervereinigung war das Ahornblatt ein absolut brauchbares Gebäude, das wunderbar mit den Hochhäusern ringsum kontrastierte. Dennoch wurde es im Jahr 2000 zerstört um einem seelen- und gesichtslosen Hotel Platz zu machen. Ein seelenloses, quadratisches Hotel inmitten eines Stadtteils voller Hotels, dem es an Stadtteilzentren und Veranstaltungsräumen mit persönlichem Charme für kleine, lokale Veranstaltungen mangelt. Aber welcher Stadtplaner denkt schon noch lokal in unserer globalisierten, kapitalistischen, von Konzernen gelenkten Welt?
Ähnlich respektlos verfuhr man mit etlichen weiteren Arbeiten Ulrich Müthers. Seinen eigenen Aussagen zufolge kostete es ihn 14 Monate, die Dachkonstruktion für das „Haus der Stahlwerker“3 zu kalkulieren und zu planen. Im Verhältnis benötigte der Eigentümer nach der Wiedervereinigung nur wenige Sekunden, um Ulrich Müthers erste Arbeit zu zerstören. Sie musste dem Wellnessbereich des neuen Hotels weichen. In diesem Fall wurde Müther immerhin noch über den Abriss in Kenntnis gesetzt. Als einer der beiden Rettungstürme abgerissen wurde, hielt man es nicht für nötig, ihn zu informieren. Und selbst da, wo seine Arbeiten noch stehen, sind sie häufig in erschreckend schlechtem Zustand oder wurden bis zur Unkenntlichkeit modernisiert.
Nicht, dass Ulrich Müther in diesem Zusammenhang allein wäre – er teilt dieses Schicksal mit vielen DDR-Architekten und Ingenieuren, deren Arbeiten nur aufgrund ihrer Entstehungszeit abgelehnt wurden, ohne dass irgendein Versuch unternommen worden wäre, sie hinsichtlich ihrer kulturellen und stadtplanerischen Relevanz, oder im Sinne eines historischen Interesses an Architektur wertzuschätzen. Die DDR mag ein jämmerliches, totalitäres Regime gewesen sein – das rechtfertigt jedoch nicht die Zerstörung aller Gebäude aus dieser Zeit. Viele Gebäude sind nicht nur in historischer und ästhetischer Hinsicht eine Bereicherung für ihre Umgebung, sie sind häufig auch, wie der Teepott in Warnemünde, poetischer Ausdruck umsichtig konzipierter Architektur; und Werke, deren innere Ausstattung problemlos für einen anderen Nutzen umgestaltet werden könnte.
Wir sind nicht der Meinung, alle ostdeutschen Gebäude müssten erhalten werden – das wäre eine haarsträubende und sträfliche Forderung. Allerdings brauch man sich nur einige der Merkwürdigkeiten anschauen, die seit 1990 gebaut wurden um zu verstehen, dass neue Architektur nicht immer gut sein muss. Eine kapitalistische Bauweise ist nicht zwangsläufig besser als eine marxistisch-leninistische.
In Anbetracht dieser Geschichte hätte Ulrich Müther jedes Recht gehabt bitter zu werden und nur wenige hätten es ihm wohl zum Vorwurf gemacht. So spricht es für seinen Charakter, dass er es nicht wurde. In einem Interview aus dem Jahr 2003 mit dem Magazin Brand Eins reflektiert er realistisch, und stoisch den Stand der Dinge und konstatiert sogar, der Abriss des Ahornblattes habe ihn aus der Versenkung geholt.4
Es ist wirklich eine Schande, dass es soweit kommen musste. Immerhin gibt es noch genügend existente Ulrich Müther Konstruktionen, die es kommenden Generationen vielleicht ermöglichen, einen passenderen, sensibleren und respektvolleren Umgang mit Ulrich Müther und seinen Arbeiten zu finden, als ihn frühere Generationen an den Tag legten.
Happy Birthday Ulrich Müther!
1. „Teepott“ Rostock-Warnemünde, Deutsche Architektur, Nr 3 1969
2. Ulrich Müther, Constructions of double curvature shells for planetariums, Bulletin of the International Association for Shell and Spatial Structures, Nr 83 December 1983
3. Kai Michel, Nach der Utopie, Brand eins, Nr 9, 2003
4. ibid.
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