Eine der größten Enttäuschungen auf der Mailänder Möbelmesse war für uns die Tatsache, dass alle Hersteller, zumindest alle, die wir besucht haben, fast schon pathologisch auf konventionelle Stuhlformen vertrauen. Das heißt auf Objekte mit Beinen oder auf Freischwinger, die die menschliche Gestalt in erhöhter Position circa 40-45 Zentimeter über dem Boden und mit einer vom Unterschenkel ausgehenden und vom Körper wegführenden Verlängerung tragen.
Jedoch führt die sich wandelnde Technologie zu einem Bedarf an neuen Stuhltypen, die alternative und unkonventionelle Sitzpositionen bieten. Positionen, die sich beispielsweise besser für den Gebrauch von Tablets und anderen mobilen Geräten eignen würden, wie durch ein höher gelagertes Gesäß, angezogene Knie oder den Schneidersitz.
Die naheliegendsten Vorlagen wären die traditionellen Zaisu Stühle, die in Ländern wie Japan oder Korea beliebt sind. Diese Form hat Knoll 2013 in Mailand exzellent mit dem OMA Low-Sessel präsentiert. Ein Stuhl übrigens, der (wie so vieles) in Mailand veröffentlicht wurde und danach spurlos verschwunden ist. Dann gibt es natürlich noch Maarten van Severens außergewöhnlichen Aluminium – LC95A Low Lounger von 1993 – eine Arbeit, die möglicherweise in der Plastikversion als LCP von Kartell populärer ist.
Das Problem mit solchen Stühlen ist allerdings, dass sie alle statisch sind, was dann auch auf die Sitzeigenschaften zutrifft. Anders ist das jedoch beim Rocker von Constantin Wortmann & Benjamin Hopf a.k.a. Büro für Form.
Entworfen wurde der Rocker im Jahr 2004, also um die sechs Jahre vor Veröffentlichung des iPads und so auch sechs Jahre, bevor ein solches Objekt wirklich notwendig gewesen wäre. Rocker gibt nicht nur eine schöne, klassische Figur ab, die an die essentielle kubische Form erinnert, von der Heinz Rasch meinte, sie sei grundlegend für die allgemeine Akzeptanz eines Stuhls, und ist nicht einfach nur ein geschickt ausgeführtes, gut proportioniertes Objekt, sondern, der Name sagt es schon, Rocker schaukelt auch noch. So erlaubt einem der Stuhl, eine Position zwischen gekreuzten, ausgestreckten und angezogenen Beinen zu wählen, und sorgt so theoretisch für längeres produktives und auch befriedigenderes Sitzen – sei es im privaten, beruflichen oder öffentlichen Bereich.
Constantin Wortmann zufolge ging Rocker bei einem kleinen, deutschen Hersteller in Produktion, der allerdings kurz nach der Lancierung pleiteging. Daraufhin haben Büro für Form den übrigen Bestand unter dem eigenen Label Items selbst vermarktet. Während Rocker zwar nicht derart verloren zu sein scheint wie viele der Objekte, über die wir hier für gewöhnlich berichten, ist der Stuhl jedoch insofern verloren als das dem Projekt zugrundeliegende Konzept und die daraus resultierenden neuen Sitzmöglichkeiten weder auf dem aktuellen Markt noch in den Köpfen zeitgenössischer Designer und Hersteller zu finden ist.
Wir haben den Rocker nie ausprobiert und wissen deshalb nicht, ob er hält, was er verspricht, wie komfortabel und beständig er ist und was er voraussichtlich in der Serienproduktion kosten würde; allerdings war er als Schritt in die richtige Richtung seiner Zeit weit voraus und ist für uns ein verlorener Designklassiker, der eine zweite Chance verdient hat …