Im inzwischen verschwommenen Jahr 2014 präsentierte das Grassi Museum für Angewandte Kunst zu Leipzig „Sitzen – Liegen – Schaukeln. Möbel von Thonet„, eine Ausstellung, die dem Besucher einen gemächlichen Spaziergang durch 150 Jahre Stuhldesign von Thonet ermöglichte und dabei half, die Entwicklung der Thonet Designs während der vergangenen Jahrzehnte zu erklären – etwa auch, warum Thonet während der 1980er Jahre auf Irrwege geriet und dann, ab den späten 1990er Jahren, seine Position als einer der führenden Möbelhersteller Europas zurückeroberte.
Die Ausstellung wurde für Thonet zum Anlass, sein umfangreiches Archiv en Detail zu untersuchen – ein so immenses Werk, dass wir mutmaßen, kaum jemand wisse um seine tatsächlichen Dimensionen. Prinzipiell ist die Aufarbeitung des Archivs für Thonet kein gänzlich neuer Gedanke; so erschienen in den vergangenen Jahren neben gelegentlichen, limitierten Neuauflagen von Archivstücken auch die Designs S 1520, S 1521 und S1522 – eine Garderobenserie, die aus komplett überarbeiteten und aktualisierten Produkten der 1930er Jahre besteht. Doch in Folge der Ausstellung im Grassi Museum unternahm Thonet eine sehr viel kritischere Auswertung des Archivs. Statt vorhandene Produkte einfach aktualisierend aufzuarbeiten, ist Thonet konzeptueller vorgegangen, um im Geiste der alten Kollektion neue, funktionale und zeitgenössische Objekte zu kreieren. Zu diesem Zweck wurden drei Projekte angestoßen: Eines beschäftigte sich mit Sofas, eines mit Lounge-Möbeln aus Stahlrohr und eines mit Lounge-Mobiliar aus Massivholz. Jedes Projekt wurde unter der Leitung eines Mitgliedes des Thonet Design Teams realisiert und auf der Mailänder Möbelmesse 2015 erstmals vorgestellt.
Für uns war und ist das Highlight der neuen Projekte das Lounge-Möbelprogramm S 650. Das von Sabine Hutter aus einem Konzept aus den 1950er Jahren entwickelte Programm S 650 ist eine eindrucksvoll reduzierte Sofa- und Sesselfamilie, die aus individuellen Sitzelementen besteht. Die Elemente können mittels eines Tischelements so kombiniert und verbunden werden, dass ein einheitliches Sofasystem entsteht. Wenn auch unverhohlen quadratisch, ist das S 650 doch ein anmutiges, unaufdringliches Objekt, das durch seine klassischen Linien und die Mischung aus Stahlrohr und großzügiger Polsterung zu einem Möbelprogramm mit zugänglichem und einladendem Charakter wird. S 650 ist eine zeitgenössische Produktserie, die, wie wir annehmen, eher in geschäftlichen Kontexten und Büros als im Wohnraum zum Einsatz kommen wird. Eine besondere Freude sind für uns die eleganten, lässigen Armlehnen, die es trotz ihrer funktionalen und formalen Relevanz nicht nötig haben, sich sonderlich hervorzutun. Diese Lässigkeit löst zudem jegliche erhabene Gewichtigkeit der Sessel auf und verleiht dem Programm einen überaus lockeren Charme.
In formaler Hinsicht sehr viel imposanter ist das Sesselprogramm S 830 von Emilia Becker. Mit seiner mehr oder weniger tropfenförmigen Sitzschale (eine Tropfenförmigkeit, die auf rabiate Art sehr geradlinig geschnitten ist) lässt der S 830 keinen Zweifel daran, wie man in ihm Platz zu nehmen hat. Nichtsdestotrotz – folgt man dieser nicht gerade subtilen Einladung, entdeckt man einen exzellent proportionierten und formal gut durchdachten Loungesessel, der angenehmes, gestütztes und entspanntes Sitzen ermöglicht. Eher als Programm denn als Einzelprodukt konzipiert, kommt der S 830 mit einer Reihe von Unterbauten daher – speziell mit einem Stahlrohrrahmen oder einem stehenden Drehfuß. Besonders effektvoll wirkte auf uns die Version mit farbigem Stahlrohrrahmen und zweifarbiger Polsterung.
Thonet verarbeitet allerdings nicht nur gebogenes Stahlrohr und Bugholz, sondern darüber hinaus auch nicht gebogenes, solides, gezimmertes Holz. Um das zu wissen, muss man zugegebenermaßen mit dem derzeitigen Thonet-Portfolio sehr vertraut sein. Allerdings reicht ein kurzer Blick in den Ausstellungskatalog des Grassi Museums, um zu bestätigen, dass solide Holzmöbel mehr oder weniger schon immer integraler Bestandteil der Thonet-Geschichte sind. Vielleicht liegt es gerade an dieser Fremdheit, dass einem die S 860 Serie von Lydia Brodde anfänglich so ins Auge sticht. Hat man allerdings den ersten Schock über ein solches Produkt in einer Thonet-Kollektion überwunden, lernt man nicht nur die Liebe fürs Detail zu schätzen, die das Design prägt, sondern auch die Qualität seiner Verarbeitung und Materialien. Die Verbindung dieser Konstruktionsfaktoren mit einer formal sehr offenen, dennoch robusten Optik ergibt einen Loungesessel, der nichts Spektakuläreres bietet als einen komfortablen und praktischen Sitzplatz. Und wie schon gesagt ist es letztendlich das, wonach man als Konsument verlangt. Kommt dann noch soviel wohlüberlegte Anmut wie beim S860 hinzu – umso besser! Der passende Ottoman sorgt zudem nicht nur für Extrakomfort, sondern funktioniert auch gut als Hocker, sodass man am Ende ein wunderbares 2für1-Geschäft macht.
Damals, im Kontext der Leipziger Ausstellung, haben wir festgehalten, dass „die beeindruckendsten, überzeugendsten und erfolgreichsten Nachkriegskreationen von Thonet immer die waren, bei denen sich die Designer mit Thonet auskannten, aber etwas Neues versuchten, das dann jedoch immer noch „Thonet“ war“. Die neuen S 830, S 650 und S 860 Programme erreichen genau das – und zwar in funktionaler, formaler und ästhetischer Hinsicht. Zudem stellen die Thonet Projekte wunderbar unter Beweis, dass Möbelproduzenten nicht immer gezwungen sind, etwas „Neues“ zu machen. In diesem Zusammenhang möchten wir an eine Bemerkung erinnern, die uns zu den Garderoben S 1520, S 1521 und S1522 eingefallen ist : „So wie die Fischer in Island nicht versuchen, ihren Profit zu steigern, indem sie versuchen, so schnell wie möglich so viel Fisch wie möglich zu fangen, so hat sich auch Thonet entschieden, nicht alle paar Monate einen Überfall auf sein Archiv zu starten in der Hoffnung schnelles Geld zu machen, sondern beschlossen, mit diesem Archiv sehr respektvoll umzugehen.“
Mit der Wiederbelebung des Archivs kann man es natürlich auch übertreiben. Neue Produkte sind ebenso wichtig, zumal für Thonet – sollte das Unternehmen vorhaben, auch eine dritte Designrevolution anzuführen. Das neue Sofa 2002 von Christian Werner, das Thonet ebenfalls in Mailand vorgestellt hat, steht zwar nicht für diese erneute Revolution, ist aber eine faszinierende Ergänzung des Thonet Portfolios – auch wenn es uns, um ehrlich zu sein, immer noch nicht gänzlich überzeugt hat. Einerseits sind wir sehr bezaubert von der Leichtigkeit, Ehrlichkeit, Geradlinigkeit und der Art und Weise, in der sich das Sofa 2002 auf fast die gesamten 150 Jahre der Thonet Geschichte bezieht. Auf der anderen Seite erscheint es uns zu offensichtlich, zu einfach, zu geradlinig und letztendlich als ein Objekt, das sich nicht genug vom Rest des Thonet Portfolios abgrenzt. um gänzlich in der Lage zu sein, eine eigene, autonome Identität zu entwickeln. Oder liegt es nur an uns, die wir, zynisch wie wir sind, nach Problemen suchen und etwas kritisieren möchten?
Glücklicherweise haben wir noch etwas Zeit, uns darüber den Kopf zu zerbrechen, zumal es bei Möbeln im Gegensatz zur Mode nicht um sofortige Erfüllung geht. Das Verhältnis zu Möbeln sollte sich, wie zur Musik, entwickeln, reifen, sich vertiefen – über Jahre, Jahrzehnte, oder – im Fall von Thonet – Jahrhunderte.
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