Die Geschichte unserer Zivilisation ist in vielerlei Hinsicht eine Geschichte der Analyse von natürlichen Systemen, wie beispielsweise den Abläufen im Inneren des menschlichen Körpers, den Prinzipien der Evolution oder der Erforschung unseres Sonnensystems.
Jede Erforschung hat die Menschen weiter gebracht und wiederum neue Möglichkeiten eröffnet.
In ähnlicher Weise ist auch die Geschichte der Industrie und Ökonomie eine Geschichte von Menschen, die Systeme entwickelt haben.
Im Jahr 1895 gab William Painter, Chef der Firma Kron Crown Cork & Seal, King Camp Gilette den Rat, dass, wenn er reich werden wolle, er etwas erfinden sollte, das Menschen benutzen und danach wegschmeißen können. Das Resultat waren die wegwerfbare Sicherheitsrasierklinge und ein sehr sehr reicher King Camp Gillette.
Was William Painter eigentlich sagen wollte, war: „Wenn du reich werden willst, entwickele ein System“, denn gut designte Systeme waren und sind die Basis unserer modernen Industrie und eines der besten Beispiele für den Wert, den das Design dem traditionellen Handwerk und Ingenieurswesen bringt.
Auf der großen Frühlingsausstellung 2015 präsentiert das Museum für Angewandte Kunst Köln, MAKK, Systemdesign: „Über 100 Jahre Chaos im Alltag – System Design“ ist eine Erforschung der Geschichte des Systemdesigns und der Vielzahl der aus ihr hervorgegangenen Systeme.
Bevor man eine Ausstellung über Systemdesign organisieren kann, muss man natürlich in der Lage sein, Systeme in einem Designkontext zu definieren. Dem Kurator René Spitz zufolge ist ein System “ (…) eine menschengemachte Konstruktion, mit der wir Ordnung ins Chaos bringen. Auf diese Weise verknüpfen wir Dinge, die für uns zusammenhängen, sodass sie für uns Sinn ergeben.“
Das ist ein Verständnis von Systemen, das natürlich das Verbindungsstück – das verbindende Element – in den Mittelpunkt der Systeme rückt, oder besser gesagt Systeme auf ein grundlegendes Element reduziert, seien das King Camp Gillettes Sicherheitsrasierklinge, Fritz Hallers Verbindungskugel, die er für sein USM Haller Möbelsystem entwickelt hat, die Bankkarte als Knotenpunkt des globalen Bezahlsystems oder beispielsweise auch die Noppen der Legobausteine, durch die sich Lego von einer Sammlung schlichter, flacher Bausteine unterscheidet, die sich stapeln, aber nicht verbinden lassen.
Mit ungefähr 150 Objekten von 80 Designern, Firmen und Institutionen präsentiert „System Design“ alles, was man in einer solchen Ausstellung zu finden hofft, darunter beispielsweise Wilhelm Wagenfelds Kubussystem aus Glasgefäßen, das Schweizer Armeemesser, eine Karte des Londoner U-Bahn-Netzes oder das String Regalsystem – all das aber neben einer überraschend großen Anzahl von Objekten, mit denen man vielleicht nicht gerechnet hätte: einer Nespresso Kapsel als universelles Verbindungsstück einer globalen Geschäftsidee, dem 10 mal 10 Film von Charles und Ray Eames mit seiner liebenswert simplen Darstellung natürlicher Systeme, die uns und die Welt zu dem machen, was wir sind, und Otl Aichers Richtlinien zur korrekten Nutzung seines Grafikdesigns für Olympia im Sommer 1972 in München und Kiel. Hier sind die Richtlinien selbst das Verbindungsstück – sie sorgen dafür, dass das System so funktioniert, wie Aicher es sich gedacht hatte.
Was es bekanntermaßen tat.
Die meisten von uns denken vor allem an Möbelsysteme, wenn es um Designsysteme geht – für René Spitz haben Designsysteme aber eine viel weiter gefasste Geschichte: „Die Entwicklung der Ideen von Systemen lief parallel zu der des Designs – eine der wichtigsten Komponenten der Industrialisierung“, sagt er, „angefangen beispielsweise mit Peter Behrens und seiner Arbeit für AEG in den 1920er Jahren, bei der er sich bewusst daran machte, die verschiedenen Aspekte seines Grafik- und Produktdesigns und seiner Architektur in einer Einheit miteinander zu verbinden – sodass das System einen höheren Wert haben würde als die Summe der einzelnen Komponenten.“ Mit Fortschreiten der Industrialisierung nahm auch die Anzahl und Vielfältigkeit der Designsysteme zu, vor allem die der Möbel- und Mediensysteme – Marcel Breuers Stahlrohrmöbel, das ESU System von Charles und Ray Eames und das dazugehörige „Eames House“, Ferdinand Kramers Möbel für das Stadtplanungsprogramm Neues Frankfurt oder das ADD System von Werner Aisslinger, um nur eine Handvoll der Möbelsysteme zu nennen, die in der Ausstellung gezeigt werden.
Die Postmoderne während der 1980er Jahre versuchte, die etablierte Logik der Systeme im Design aus ihrem Gleichgewicht zu bringen – nur dass sich Designideen nicht ohne weiteres umstoßen lassen; man kann ihnen nur neue Impulse geben. Und so hat sich die Entwicklung seit den 1990er Jahren fortgesetzt, wenn auch befreit von den früheren formalen Beschränkungen. Die logische Konsequenz ist, dass das Systemdesign der Industrie in das post-industrielle Zeitalter und unsere moderne Zeit gefolgt ist. Die digitalen Komponenten von Systemen und deren Verbindungselemente haben größtenteils aufgehört, konkrete Dinge zu sein, und sich stattdessen eher in abstrakte Konzepte verwandelt.
Die iTunes Software erlaubt es einem, den gleichen Song auf jeglicher Anzahl von Endgeräten abzuspielen. Aber wer versteht tatsächlich, wie das funktioniert? Mit Sicherheit sehr viel weniger als diejenigen, die verstehen, wie ein String Regalsystem funktioniert.
Bedenkt man, dass es in der Ausstellung um Systeme und Design gehen soll, fällt auf, dass die Ausstellung selbst ziemlich unsystematisch – aber nicht chaotisch – aufgebaut ist.
„Eine solche Ausstellung chronologisch aufzubauen, macht keinen Sinn“, erklärt René Spitz, „und so haben wir uns stattdessen entschieden, alle Objekte gleich zu behandeln und haben einen sehr viel freieren Ansatz gewählt. Die Räume wurden überwiegend hinsichtlich des Raumes, der Dimensionen und der Lichtverhältnisse arrangiert.“
Das daraus resultierende Ausstellungsdesign ist etwas gewöhnungsbedürftig. In solchen Ausstellung ist man normalerweise an ein sehr strukturiertes Layout gewohnt, sei das in thematischer oder chronologischer Hinsicht. So steht man ein bißchen wie ein angehender Astronom an seinem ersten Abend da, der verlassen auf die endlosen, hellen Lichter am Himmel starrt und versucht, sich irgendwie zu orientieren. Trotz allem – beginnt man einmal seinen Weg durch die drei Ausstellungsräume, ergibt sich automatisch eine gewisse Logik.
Und mit dieser Logik beginnt man auch zu verstehen, dass das, was ein jeder von uns als System versteht, von unserer individuellen Perspektive und Wahrnehmung abhängt. Systeme existieren in vielfältiger Form und sind nicht immer sofort als solche zu erkennen. Jedenfalls nicht ohne das notwendige Wissen. So werden beispielsweise viele sofort das Heckler & Koch HK G36 Maschinengewehr als ein Systemdesign begreifen, andere sehen wiederum nur ein Gewehr.
Als wohl überlegte und realisierte Ausstellung präsentiert „System Design“ eine interessante Mischung von Objekten und Genres und liefert die nötigen Hintergrundinformationen auf bündige und dennoch umfassende Art, damit auch jeder Besucher die Exponate als Systeme verstehen kann. All das fehlt in anderen Ausstellungen häufig.
Was die Ausstellung auch sehr deutlich macht, ist, dass – der universalen Definition von René Spitz zum Trotz – der Begriff „System“, geht man ins Detail, ein sehr vages und abstraktes Konzept ist, das seine globale Definition mehr oder weniger verloren hat. Jedes System mag ein verbindendes Element benötigen, darüber hinaus gibt es allerdings keine Regeln.
Das macht die Ausstellung allerdings nicht weniger sehenswert. Ganz im Gegenteil: Dieses Verständnis zwingt einen vielmehr, die einen umgebenden Dinge im Detail zu untersuchen. Und je genauer wir hinsehen, umso mehr Designsysteme finden wir. Mehr und mehr Objekte des täglichen Lebens begreift man als Knotenpunkte in einem ökonomischen System – und so beginnt man automatisch, Designsysteme zu hinterfragen.
Letzendlich begreift man so auch, dass Designsysteme im Gegensatz zu natürlichen Systemen konfiguriert, umgestaltet und optimiert werden können.
„SYSTEM DESIGN. Über 100 Jahre Chaos im Alltag“ ist im Museum für Angewandte Kunst, An der Rechtschule, 50667 Köln bis zum Sonntag, den 7. Juni zu sehen.
Alle Details sind unter www.makk.de zu finden.