Wie wir schon vor kurzem festgestellt haben, neigt sich der Sommer so langsam seinem Ende zu und anstatt langer sonniger Tage im Garten oder am See erwarten uns nun lange dunkle Tage, die wir in Bürostühlen zubringen werden. Aber mit dem Herbst 2014 kommt auch die Orgatec auf uns zu. Also Europas größte Messe für Büromöbel und zwangsläufig eine große Flut „neuer“ Bürostuhl-„designs“.
Folglich sollte es keine große Überraschung sein, dass wir kürzlich unsere Ausgabe von Jonathan Olivares „A Taxonomy of Office Chairs“ aus dem smow Bücherregal gezogen haben.
Der 2011 veröffentlichte Band „A Taxonomy of Office Chairs“ zeigt die Entwicklung der Bürostühle seit den 1840er Jahren auf und präsentiert, wie es der Titel schon vermuten lässt, eine Klassifikation des gesamten Möbeltyps.
Den Anfang macht dabei ein lockerer, sehr unterhaltsamer Bummel durch die Geschichte der Bürostühle, dem ein chronologischer Katalog der etwa 130 im Buch vertretenen Bürostühle folgt. Schließlich kommt der Band zum Kern der Sache, der Klassifikation – oder besser gesagt den Klassifikationen. Denn während Pflanzen, Tiere oder Fadenwürmer das Resultat einer kontinuierlichen unbewussten Evolution sind, die zu großen Teilen von Umwelt- und Verhaltensfaktoren abhängig ist, ist der Bürostuhl eine künstliche Konstruktion, die aus zahlreichen, jeweils sehr bewusst gewählten Elementen besteht, von denen jedes über eine eigene Klassifikation verfügt.
Und Jonathan Olivares führt uns durch die Klassifikationen der Kopfstützen, Armlehnen, Lendenstützen etc. pp.
Leider ist es mit den Klassifikationen, und jeder Biologe wird einem das bestätigen, so eine Sache. Sie sind einfach phänomenal komplex und ebenso phänomenal langweilig!
Jonathan Olivares bestätigt das gewissermaßen stillschweigend in seiner Einleitung, wo er erwähnt, dass er beschlossen hat, Muttern, Schrauben, Textilien, Schaltknöpfe und Federspiralen zu ignorieren. Dadurch lässt er sich nicht nur auf die gleichen Zugeständnisse und Verallgemeinerungen wie alle Systematiker ein, um eine gewisse Kontrolle über den sich ausdehnenden Bereich zu behalten, sondern bewahrt die Leser auch vor akuter Narkolepsie.
Vor welchem Schicksal wir und wohl auch Jonathan Olivares bewahrt wurden, lässt sich im Bereich „Bodenkontakt“ erahnen – ist es relevant, dass der Herman Miller Stuhl Aeron von 1994 der Erste war, dessen Bodengleiter mithilfe eines aus Spritzguss hergestellten Nylonsteckers am Fundament des Stuhls angebracht wurden? Ja, es ist relevant – langweiliger Weise! Weil mit solchen Innovationen nämlich andere Produktionsmethoden, Montageabläufe, Kostenstrukturen, Nachhaltigkeits- und Umweltprofile, Reparaturmöglichkeiten usw. verbunden sind.
All das mag dem Konsumenten unwichtig erscheinen, ist es allerdings nicht, weil es sich letztendlich auch auf den Preis auswirkt.
Die Frage der Bürostuhltextilien ist ähnlich, wenn nicht relevanter. Und lasst uns gar nicht erst anfangen mit den Hebeln zur Höhenverstellung…
Weniger eine traditionelle Klassifizierung zur Identifikation und Einordnung, liefert Jonathan Olivares vielmehr eine Art evolutionäre Klassifikation. Ähnlich wie der Weg von kieferlosen Wirbeltieren über Fische zu Amphibien und Säugetieren lässt sich auch die Entwicklung der Bürostühle nachvollziehen. So ebneten die geschwungenen Bugholzarmlehnen des Thonet Schaukelstuhls von 1885 den Weg für die gegossene Schlaufe der Armlehnen von Charles und Ray Eames‘ Aluminium Group, die wiederum die geschwungenen Armlehnen aus Spritzguss von Charles Pollocks gleichnamigen Stuhl für Knoll im Jahr 1965 vorbereiteten.
Also kein großer Spaß, und genauso interessant wie Handbücher für Autoreparatur oder Formschnittgärtnerei. Es handelt sich vielmehr um eine Art antiquiertes Telefonbuch für Leute mit einer Schwäche für Büromöbel. Wie gesagt, es ist keine große Überraschung, dass gerade wir kürzlich unsere Ausgabe von Jonathan Olivares Taxonomy of Office Chairs aus dem Bücherregal gezogen haben.
Wir würden meinen, es wäre besser gewesen, hätte Jonathan Olivares erst die Forschung gemacht und dann die fraglos sehr interessanten sozialen, kulturellen und politischen Faktoren diskutiert, die die Evolution der Bürostühle über die Jahrzehnte beeinflusst haben. Dort hätte er sich im Verlauf gelegentlich auf die wirklich begrenzte Anzahl von Entwicklungen beziehen können, die zu etablierten industriellen Standards führten, anstatt so minutiös jede einzelne Veränderung aufzuzählen.
In der Einleitung erfahren wir beispielweise etwas über die Einflüsse von Gesundheitsstandards und Sicherheitsvorschriften auf das Design von Bürodrehstühlen, wie Fortschritte in der Stuhlproduktionstechnik zu weniger Herstellern geführt haben, dass Chefs immer bessere Stühle als ihre Angestellten haben und dass die erste dokumentierte Erwähnung von Laufrollen an einem Bürostuhl einer selbst erstellten Konstruktion von Charles Darwin zugeschrieben wird.
Hätte sich Jonathan Olivares auf das, was nach Darwin kam, konzentriert, hätte er vielleicht ein alles in allem unterhaltsameres, zugänglicheres Buch geschrieben, das garantiert ein größeres Publikum erreicht hätte. „A Taxonomy of Office Chairs“ bleibt also ein Buch für alle, die z.B. wissen wollen, wer zuerst von einem Spritzguss gefertigten Synthetikfundament Gebrauch gemacht hat. (Es war Mario Bellini mit seinem Persona Bürostuhl von 1984 für Vitra.)
Und für alle, deren Interesse wir immer noch nicht wirklich wecken konnten: „A Taxonomy of Office Chairs“ von Jonathan Olivares erscheint bei Phaidon Press.
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