Bittet doch einfach mal die Person neben euch, mal schnell einen „Bauhaus-Stuhl“ zu skizzieren… Und? Was hat er oder sie gezeichnet?
Wir vermuten, das Ergebnis ist relativ quadratisch, reduziert und hat, vorausgesetzt die Person neben euch ist mit den Arbeiten von Mart Stam, Marcel Breuer usw. vertraut, mindestens einen halbrunden Bügel, entweder an der Rückenlehne oder unter dem Sitz. Und der Entwurf ähnelt mit ziemlicher Sicherheit dem Spaghetti Chair von Giandomenico Belotti für Alias – ein Stuhl, der ironischerweise aus einer Tradition entstand, die im Kontrast zum Bauhaus steht.
Giandomenico Belotti wurde 1922 in Bergamo geboren, studierte Architektur an der Universität von Venedig, und obwohl er nicht zu den bedeutendsten italienischen Möbelarchitekten gehört, schuf er 1980 mit seinem Spaghetti Chair einen zeitlosen Klassiker des Möbeldesigns.
Bestehend aus Stahlrohr und PVC-Kordeln, ist der Spaghetti Chair ein Objekt mit unverkennbarer Persönlichkeit und nimmt dank seiner minimalen Gestalt fast keinen Raum ein. Das macht ihn perfekt für Orte, wo Platz Mangelware ist, beispielsweise in kleinen Wohnungen und auf Balkons, oder überall dort, wo die Möbel nicht vom Raum ablenken sollen, wie zum Beispiel in Galerien und Ladengeschäften.
So wenig greifbar wie seine Form ist auch der Ursprung des Stuhls. Trotz seiner Ähnlichkeit mit Möbeln, die in den Werkstätten am Bauhaus Dessau entstanden sind, liegen die Wurzeln des Spaghetti Chairs in einer anderen Strömung der europäischen modernen Architektur: der Architettura Razionale, also dem italienischen Rationalismus – einer relativ kurzlebigen Bewegung, bei der im Wesentlichen versucht wurde, Architektur durch die Verwendung einer begrenzten Anzahl standardisierter, einfacher Formen auf ihre Grundelemente zu reduzieren und damit schließlich zu abstrahieren. Dieses Verständnis von Architektur lehnte Walter Gropius natürlich rigoros ab. Sein Widerstand gegen eine solche „Typisierung“ war sogar einer der vielen Gründe für den Bruch zwischen dem Deutschen Werkbund und dem Bauhaus.
Obwohl der Italienische Rationalismus ein Zwischenkriegsphänomen war, erlebte er in den 1960er Jahren ein Revival, das vor allem durch den Einfluss des italienischen Architekturhistorikers Manfredo Tafur begründet war. Die Universität von Venedig wurde zu dieser Zeit zum wichtigstes Zentrum der Bewegung. In diesem Sinne ist es nur treffend, dass es gerade ein Absolvent der Universität von Venedig war, der durch die intelligente und wohlüberlegte Verwendung sehr einfacher Strukturen und Materialien, einen speziellen italienischen Architekturstil zu einem universellen Möbeldesignklassiker machte – einem Klassiker, der eine optisch sehr ansprechende Brücke zwischen zwei völlig verschiedenen Herangehensweisen an die Moderne schlägt und so wunderbar demonstriert, dass es im Design oft mehrere, gleichwertige Wege zu einer Lösung gibt.
Die Bedeutung und der kulturelle Wert des Spaghetti Chairs können unter anderem an der Zahl der Museen gemessen werden, die das Stück in ihre permanente Sammlung aufgenommen haben, darunter das Triennale Milano, das Vitra Design Museum und das MoMa New York.
Trotz des universellen Beifalls und der Anerkennung, den der Spaghetti Chair schon erhalten hat, blieb er Giandomenico Belottis einziger bedeutender Beitrag zum Möbeldesign des 20. Jahrhunderts. Doch die Bezeichnung „One Hit Wonder“ ist in diesem Fall keinesfalls als Beleidigung zu verstehen. Egal ob es sich um eine Eingebung oder einen Moment unglaublicher kreativer Klarheit handelt, eigentlich gibt es doch keinen Grund, diesen Moment übertreffen zu wollen.
Bleibt da noch der Name. Er war nicht etwa als Selbst-Parodie oder gar Marketingstrategie gedacht. Der Stuhl hieß ursprünglich anders, normal, sogar vernünftig. Und dann, so die Legende, erhielt er bei einer Ausstellung in New York aufgrund der Ähnlichkeit der PVC-Kordeln mit dem beliebten italienischen Hartweizenprodukt seinen Spitznamen. Und so ist er, obwohl es so schmerzhaft offensichtlich ist, die einzige Sache am Spaghetti Chair von Giandomenico Belotti für Alias, die eben offensichtlich ist.
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