Vor ein paar Jahren standen wir in ungläubigem Schweigen in einer Filiale einer großen deutschen Elektronikkette: Ein elektrischer Nudelkocher.
Unglauben wurde zu Sorge.
Ein elektrischer Nudelkocher. Mit einem programmierbaren 24-Stunden-Timer. Nach 85 Millionen Jahren hat der Mensch den Zenith seiner Evolution erreicht …und überschritten. Nun geht es für uns wieder in einer Abwärtsspirale nach unten.
Sorge wurde zu Einsamkeit.
Die Erfahrung verdeutlichte uns wieder das Paradoxe an einer Karriere als Produktdesigner. Man wird dazu ausgebildet, Dinge zu designen. Doch während der Ausbildung lernt man nicht nur, dass wir so viele neue Dinge gar nicht brauchen, sondern auch, dass wir uns immer mehr neue Produkte gesellschaftlich und ökologisch gar nicht leisten können. Wie rechtfertigt man also das Mitwirken an einer Situation, von der man ganz genau weiß, dass sie eigentlich nicht zu rechtfertigen ist?
Einen besonders intelligenten Beitrag zu dieser Debatte liefert das Buch Einhundert: Der Designer und die Dinge – ein Selbstversuch von Moritz Grund, Gewinner des Wilhelm Braun-Feldweg-Förderpreises für Designkritik 2012, Deutschlands, wenn nicht gar Europas, einziger Preis für Designliteratur.
In 10.000 Wörtern erörtert Moritz Grund darin den Umgang mit Besitztümern und Konsequenzen für das Produktdesign im Kontext eines Experiments, bei dem er die Anzahl seiner Habseligkeiten auf 100 Stücke reduziert – ein symbolisches Ziel, das ungefähr der Zahl von Dingen entspricht, die er bei seinem Umzug nach Berlin besaß. Für das Experiment an sich ist aber nicht das Erreichen des Ziels wichtig, sondern die Reduzierung an sich, der Prozess also.
In Form von überwiegend sehr persönlichen Kurzgeschichten, in denen Moritz seine Reise durch das Leben ebenso wie sein Experiment beschreibt, liefert Einhundert ein geschickt konstruiertes Argument für mehr Verantwortungsbewusstsein der Konsumenten und mehr Ehrlichkeit von Seiten der Designer. (Moritz spricht zwar insbesondere über Produktdesigner, aber wir würden Mode- und Grafikdesigner auch noch auf die Liste setzen. Und Schriftdesigner. Und Fotografen – kann man denn allen Ernstes noch ein weiteres Schwarz-Weiß-Foto von einem alten, runzligen, zigarrerauchenden Kubaner rechtfertigen? Nicht wirklich, oder?)
Ein wiederkehrendes Thema im Text ist „weniger ist mehr“.
„Weniger ist mehr“ wie in: Indem man die Anzahl seiner Besitztümer reduziert, entdeckt man mehr Freude an den Dingen, die man hat.
„Weniger ist mehr“ wie in: Indem man die Anzahl seiner Besitztümer reduziert, erkennt man die Einschränkung, die einem durch den Besitz auferlegt wird.
„Weniger ist mehr“ wie in: Indem man die Anzahl komplizierter Wörter und Konstruktionen reduziert, schafft man einen besseren Text.
Das wäre einer unserer Kritikpunkte an Einhundert. Moritz vermeidet ganz bewusst die Verwendung unspezifischer, subjektiver Begriffe, wie „schön“ oder „natürlich“, was an sich ja gut ist, aber er tendiert auch zu überflüssigen Formulierungen. Zuweilen liest es sich als würde er es ein wenig zu sehr versuchen und ein paarmal läuft sein Text fast wie ein Luxus-Kreuzfahrtschiff auf Grund, wenn er versucht… äh, die richtige Metapher oder das richtige Attribut zu finden.
Komplizierte Konstruktionen und das Fehlen jeglichen Humors im Text, das sind unsere zwei Kritikpunkte. Mitunter ist Einhundert ziemlich trocken und scheint als würde es nie enden. In solchen Momenten wünschen wir uns sehnlichst ein wenig „störende“ Leichtigkeit.
Passenderweise demonstriert der niederländische Designer, Autor, Moderator etc. Lucas Verweij in seiner Einleitung zu Einhundert gekonnt genau die Art unbeschwerter Leichtigkeit, von der wir hoffen, dass Moritz sie in den kommenden Jahren auch in seine eigenen Texte bringen kann.
Damit wollen wir das Buch natürlich nicht als unlesbaren Quatsch denunzieren. Auf gar keinen Fall! Einhundert ist ein sehr lesbarer, unterhaltsamer Text, der ein Thema behandelt, das wir alle zu verstehen behaupten, über das sich aber kaum jemand ernsthaft Gedanken macht.
Wir alle wissen, dass wir mehr konsumieren und besitzen als wir naturgemäß bräuchten. Doch ein Buch, das sagt „Besitz nicht so viel und so, denn wenn du das tust, wirst du den Planeten irgendwie zerstören.“ ist in etwa so viel Wert wie in Buch das sagt „Rauch nicht so viel, es ist schlecht für dich.“
Das ist zwar wahr, aber wir brauchen keine Bücher, die uns sagen, was wir tun sollen. Wir brauchen Argumente, mit denen wir uns identifizieren können und die uns beim Handeln helfen und uns schließlich dazu bringen, Verantwortung für unsere eigenen Entscheidungen und Taten zu übernehmen.
Kate Moss wurde angeblich mal ohne jeden Kontext zitiert als sie angeblich sagte: „Nichts schmeckt so gut, wie sich dünn sein anfühlt“. Wiederhole das sechs Mal am Tag und du wirst niemals wieder einen Schokoriegel essen. „Kate Moss sagt, dass man weniger Schokolade essen soll, weil man sonst fett wird.“ hätte vermutlich nicht den gleichen Effekt…
Ähnlich ist es auch, wenn Moritz Grund beschreibt, wie er seinen Keller nach dem Prinzip aufräumt: „Entweder ich hatte etwas zur Hand oder ich besaß es nicht. Was ich nicht sehen kann, darauf kann ich nicht zugreifen. Und so nutzt es mir nicht. Erst der Zugriff auf mein Eigentum ermöglicht die Verwendung.“ Man beginnt, sein eigenes Heim in einem neuen Licht zu sehen. Nicht nur der Keller und die Flurschränke werden zum Beweis für den eigenen Beitrag zur Überproduktion und Ressourcenerschöpfung, sondern auch die Kleiderschränke, Küchenregale, Bücherschränke etc. Aber „Räum deinen Keller aus, du hast viel zu viel Zeug!“…?
Die Frage ist nur, wird Einhundert auf ein Echo stoßen? Oder schreit Moritz Grund ins Leere? Wer liest eigentlich Bücher über Designtheorie? Wer liest ernsthaft Designkritik?
Verbraucher? Nein. Die sind viel zu sehr damit beschäftigt ihre Pinterest-Accounts mit „süßen/coolen/retro“ Fotos von Produkten zu füllen, die sie irgendwo in einem Blog voll mit schönen Fotos gefunden haben.
Produktdesigner? Produktdesigner lesen keine Bücher über Designtheorie. Und noch weniger versuchen sie, ihre eigene Position mithilfe des Schreibhandwerks zu formulieren. Das ist etwas, das sowohl Moritz als auch Lucas in ihren Texten bedauern.
Designjournalisten? Wie viele Designkritiker könnt ihr denn aufzählen? Wie viele Publikationen kennt ihr, die eine regelmäßige Designkolumne haben? TV-Sender? Die meisten Designjournalisten sind gar keine Designjounalisten. Sie werden ja auch nicht dafür bezahlt. Sie werden dafür bezahlt Lifestyle-Journalisten zu sein. …oder Gadget-Journalisten. …oder Trend-Journalisten.
Das ist in Anbetracht der zentralen Rolle, die Design in unser aller Leben angeblich spielen soll, umso absurder. Wie oft habt ihr denn das Wort „Design“ heute schon in der Werbung gelesen? Design wird von der Werbebranche benutzt, um uns Dinge zu verkaufen. Aber niemand interessiert sich wirklich für Design.
Einhundert wird das zwar nicht ändern, aber es zeigt, dass gute, wohl durchdachte und gut argumentierte Designliteratur nicht voll mit komplexen Erörterungen über „funktionale Formensprache“, „Paradigmenwechseln“ oder „postmodernen Androgynismus“ sein muss. Manchmal kann es auch einfach nur um Pizzateig, Hauspflanzen und das Deponieren von Bier in Badewannen während Partys gehen. Wenn man das einmal verstanden hat, werden Designdiskussionen zu Debatten über Verantwortung. Und dann kann man diesen widersprechen und mit einem Kontra-Argument auf den Autor zugehen und dazu beitragen, die Debatte weiter voran zu bringen. Erst dann werden wir wirklich in der Position sein, weniger, aber bessere Produkte zu entwickeln.
Einsamkeit wurde zu Hoffnung.
Einhundert: Der Designer und die Dinge – ein Selbstversuch von Moritz Grund wird vom Niggli Verlag als zweisprachiger Text (Deutsch/Englisch) publiziert.
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