„Es werden in der Ausstellung hauptsächlich Modelle einfacher, zweckmäßiger und bequemer Stühle gezeigt für den Wohnraum, das Büro und den Garten.“1 Mit diesem klaren Vorsatz beginnt der Katalog zur Ausstellung Der Stuhl, die vom 15. September bis zum 15. Oktober 1928 in Stuttgart stattfand.
Organisiert vom Württembergischen Gewerbeamt – das damals für die Region Stuttgart verantwortlich war – umfasste Der Stuhl ca. 400 Objekte von über 50 internationalen Herstellern. Die Ausstellung sollte einen Überblick über all die einfachen, bequemen Stühle geben, die Ende der 1920er Jahre erhältlich waren. Dabei ist das Wort „erhältlich“ ganz besonders wichtig. Alle ausgestellten Stühle mussten über normale Vertriebswege erworben werden können. Museumsstücke waren von der Ausstellung strikt ausgeschlossen – was natürlich heute paradox klingt, in Anbetracht der Tatsache, dass viele der damaligen Exponate heute zur ständigen Sammlung jedes guten Museums für Design / angewandte Kunst gehören. Der Stuhl zeigt einen einzigartigen Schnappschuss der Entwicklung der europäischen Architektur und des europäischen Designdenkens.
Da die Ausstellung so kurz nach Die Wohnung und der Eröffnung der Weißenhofsiedlung Stuttgart stattfand und sowohl Arbeiten zeigte, die erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurden, als auch Produkte, die schon vor dem Ersten Weltkrieg entworfen wurden, sowie solche, die, obwohl sie schon auf dem Markt waren, noch ihre letzten Entwicklungsstufen durchliefen und deshalb noch nicht 100%ig ausgereift waren, verkörpert Der Stuhl den Wendepunkt, an dem sich Design und Architektur damals befanden.
Obwohl Holz noch die Grundlage der meisten ausgestellten Stühle bildete – darunter waren auch einige Stücke, die vielsagende Parallelen zu Michael Thonets Holzbiegeverfahren aufwiesen – wurde Metall immer präsenter. Außerdem gab es die ersten Anzeichen für mechanische Herstellungstechniken in großem Maßstab. Einerseits zeigte eine begleitende Rahmenausstellung erstmalig „Spezialmaschinen für die Stuhlfabrikation“, während andererseits die Form und der Aufbau vieler Stücke darauf hinweist, dass sie dafür konzipiert wurden, mit Maschinen in Massen produziert zu werden, statt mithilfe traditioneller, arbeitsintensiver Handwerksverfahren.
Mit dem Übergang vom Handwerk zur Industrie kam auch die Notwendigkeit Möbel so zu designen, dass sie zu dieser neuen Denkweise passten. In diesem Sinne und obwohl die ausgestellten Arbeiten ausschließlich von Architekten und Künstlern stammten, markiert Der Stuhl wahrscheinlich den Beginn des Möbeldesigns als eigenes Genre.
Doch trotzdem haben wir den Eindruck, dass den Besuchern die historische Bedeutung des Events nicht wirklich bewusst war. Wenn man den Katalog, das Buch zur Ausstellung und die damaligen Pressemitteilungen liest, wird deutlich, wie sachlich und unspektakulär das Ganze war. Niemand schien sich sonderlich für die Exponate zu begeistern. Man war einfach neugierig, zu sehen, was die verschiedenen Hersteller so produziert hatten. Dabei würde wahrscheinlich jeder moderne Designsammler mit Zugang zu einer Zeitmaschine einen Herzinfarkt bekommen, wenn er aus Versehen im Jahr 1928 in Stuttgart rauskommen und völlig unvorbereitet in die Ausstellungshalle stolpern würde.
Es gab zum Beispiel zwei Stühle, die mit „Architekt Rietveld, Utrecht“ ausgewiesen waren, darunter auch ein unbemalter Red and Blue Stuhl – und das obwohl die namensgebenden Farben schon 1923 hinzugefügt wurden. Wir vermuten, können das allerdings nicht beweisen, dass Gerrit Rietveld damit die Tatsache betonen wollte, dass der Stuhl in Massen produzierbar war, was natürlich ohne die Farben besser funktionierte. Und der erste Stuhl in der Ausstellung wurde z.B. einfach als „Freischwebender Stuhl aus Stahlrohren und Gurtgeflecht“ der L. & C. Arnold GmbH Eisenmöbelfabrik Schorndorf gelistet. Lediglich unter dem Foto findet man den Zusatz „Entwurf von Mart Stam, Rotterdam“.
Der Katalog beinhaltet auch einen Armdrehstuhl von einer gewissen „Charlotte Perriand, Paris“, der einem durchaus bekannt vorkommen dürfte. Bei dem Objekt handelt es sich wahrscheinlich um den Original B 302, den Perriand 1927 entworfen hat und der dann später nach kleinen Veränderungen durch Pierre Jeanneret und Le Corbusier – und einem bisschen Fein-Tuning durch alle drei – 1929 als das Objekt wieder auf den Markt gebracht wurde, das zum modernen LC7 Drehstuhl von Cassina werden sollte – ein Stuhl, der allen dreien angerechnet werden kann, aber meist Le Corbusier zugeschrieben wird. Dadurch gewährt ein harmloser Katalogeintrag einen sehr interessanten Einblick in die Geschichte des Möbeldesigns und vor allem in die Geschichte eines Produktes, das wir alle zu kennen glauben.
Die Literatur zur Ausstellung Der Stuhl ist voll von solchen Momenten. Momente, die Möbel und Möbeldesign als ein leidenschaftliches, ganz persönliches Thema zeigen statt nur als ein nüchternes, berechnendes Geschäft. Momente, die unterstreichen,wieso Der Stuhl als geschichtliche Dokumentation so ungemein wichtig ist.
Es wäre natürlich übertrieben, Der Stuhl als die größte Möbelausstellung aller Zeiten zu bezeichnen, zumal es zwischen all den Highlights auch jede Menge mittelmäßigen Ballast gibt. Aber in Anbetracht der ausgestellten Produkte, der dort vertretenen „Designer“ und des Platzes, den viele der Stücke und ihre Erschaffer in der Geschichte des Designs eingenommen haben, muss man schon ganz schön lange suchen, um eine bedeutsamere, stimulierendere und auch charmantere Ausstellung als Der Stuhl in Stuttgart zu finden.
1. „Katalog : Ausstellung der Stuhl ; Stuttgart ; Sept.-Okt. 1928“ J. Hoffmann Verlag Stuttgart 1928
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