Wir bleiben noch ein wenig in Feierlaune: 25 Jahre nachdem sich die Jungspunde der europäischen Moderne in Stuttgart zusammengeschlossen hatten, um die Weißenhof Siedlung zu eröffnen, war ein etwas betagter dänischer Architekt, der als Student stark von den Werken der europäischen Modernisten beeinflusst worden war, kurz davor, seinen weltweiten Durchbruch zu erlangen – und zwar mit einem Stuhldesign, das den Bruch mit der Moderne und den furchtlosen Vormarsch in eine neue, unsichere Welt nach dem Krieg repräsentiert.
60 Jahre ist das nun her. Also, Happy Birthday liebe Ameise von Arne Jacobsen!
Wie viele andere Klassiker des Möbeldesigns hat auch die Ameise relativ unspektakuläre Ursprünge: Sie war zunächst als Stuhl für eine neue Kantine gedacht, die Jacobsen für den dänischen Pharmakonzern Novo entwerfen sollte. Jedoch kam er in der frühen Entwicklungsphase des Projekts in Kontakt mit Fritz Hansen, ein Unternehmen, mit dem er schon vorher zusammen gearbeitet hatte und das – was noch viel wichtiger ist – die Technik und das Know-How hatte, das Jacobsen für das Formen des Sperrholzsitzes benötigte. Und wie der Zufall es wollte war Fritz Hansen just zu dieser Zeit auf der Suche nach einem Allzweckstuhl, der mit den neuen Produkten von Charles und Ray Eames für Hermann Miller mithalten konnte. Der Rest ist Geschichte…
Trotz des unbestrittenen Erfolgs der Stühle wurde die Ameise – wie auch viele von Egon Eiermanns Stuhldesigns aus jener Zeit – lange aufgrund ihrer scheinbaren Ähnlichkeit mit den Arbeiten von Charles und Ray Eames kritisiert. Finn Juhl soll am 3. Oktober 1952 bei der offiziellen Präsentation des Stuhls diese Ähnlichkeit sogar gegenüber Arne Jacobsen kommentiert haben.1 Während Egon Eiermann aber immer noch behaupten konnte, dass die Ähnlichkeit durch die gemeinsame Inspiration zustande kam, ließ die Tatsache, dass Fritz Hansen einen DCM von Eames erworben hat, um Jacobsen zu verdeutlichen, in welche Richtung sie mit ihrem neuen Stuhl gehen wollen, das Ganze dagegen ein wenig suspekt erscheinen. Das wäre zumindest so, wenn die Ameise nicht so einige sehr wichtige Innovationen beinhalten würde, die weit über die damalige Arbeit der Eames‘ hinausgeht.
Zunächst einmal verfügt die Ameise über den ersten dreidimensional geformten Sperrholzsitz in der Möbelgeschichte, bei dem die Sitzfläche und die Rückenlehne aus einem einzigen Stück bestehen. Die Sitzfläche des DCM hingegen wurde zwar auch vertikal und horizontal gebogen, ist aber nicht mit der Rückenlehne verbunden. Für die Umsetzung dieses wichtigen Konstruktionsschrittes war es nicht unerheblich, dass Fritz Hansen schon 1872 damit begann, im Sinne von Michael Thonet Holz zu verbiegen, und so hatte der Hersteller schon 80 Jahre Erfahrung mit der Erhitzung und Verformung von Holz, als er sich an das Formen von Jacobsens Sperrholzsitzschale machte.
Das Sperrholz erfolgreich zu biegen war jedoch nur ein Teil des Problems. Die Sitzschale musste Stabilität gewähren – vor allem an der Stelle, wo die Sitzfläche in die Rückenlehne übergeht. Jacobsen erlangte diese Stabilität durch die Schlitze und die runde, kurvenreiche Taille – eine schlichte, technische Lösung, die dem Stuhl seine charakteristische Form gab. Und schließlich seinen Namen.
Ebenso wichtig wie die technische Innovation war die Tatsache, dass Arne Jacobsen und Fritz Hansen mit der Ameise einen stapelbaren Stuhl geschaffen haben. Für Jacobsen hatte die Stapelbarkeit des Stuhls absolute Priorität – und das nicht nur wegen seiner ursprünglich intendierten Funktion als Cafeteria Stuhl, sondern auch wegen der später von Fritz Hansen beauftragten als Allzweckstuhl für den Privatgebrauch. Bis dahin waren stapelbare Stühle jedenfalls eher die Ausnahme als die Regel. Charles und Ray Eames zum Beispiel konnten erst 1955 mit dem DSS erfolgreich einen in großen Mengen produzierbaren Stapelstuhl entwerfen.
In diesem Zusammenhang ist auch ein zweites, überaus umstrittenes Thema zu nennen: Die drei Beine der Original-Ameise. Für Jacobsen waren die drei Beine der Ameise nicht verhandelbar. Die Ameise hatte ein dreibeiniger Stuhl zu sein. Punkt. Dieser Aufbau diente nicht nur der besseren Stapelbarkeit, sondern verhinderte laut ihm auch, dass sich die Beine im hektischen Cafeteria-Alltag ineinander verhakten. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie der Stuhl zugunsten seiner Funktionalität reduziert wurde, was natürlich sehr stark an die europäische Moderne erinnert.
Für viele Zeitgenossen Jacobsens war der dreibeinige Stuhl jedoch nur instabil und sinnlos. Der Aufruhr war schließlich so groß, dass Fritz Hansen 1955 Jacobsen mehr oder weniger dazu nötigte, eine vierbeinige Version zu entwerfen. Doch auf Jacobsens Drängen hin wurde die dreibeinige Variante auch weiterhin quasi unter dem Ladentisch verkauft, jedoch bis nach seinem Tode 1971 nicht offiziell von Fritz Hansen vertrieben.
Obwohl es nur fair ist, zu erwähnen, dass Jacobsens späteres Stuhldesign Serie 7 mit der zylinderförmigen Rückenlehne heute wahrscheinlich bekannter ist als die Ameise – und das nicht nur wegen der unanständig hohen Zahl geschmackloser Plagiate auf dem Markt oder diesem geschmackvoll unanständigem Foto von Christine Keeler – so bleibt die Ameise doch einer der wichtigsten Stühle im Möbeldesign des Nachkriegseuropas und vor allem ein Objekt, das jeder, der sich für gutes Design interessiert, studieren und verstehen sollte.
Happy Birthday zum 60.!
1. „Arne Jacobsen“ von Carsten Thau und Kjeld Vindum.Danish Architectural Press, Kopenhagen 2002