Am 20. März hat das Bauhaus-Archiv Berlin seine Frühlingsausstellung „Stühle ohne Beine“ eröffnet.
„Stühle ohne Beine“ ist eine Hommage an den Freischwinger, an seine Entwicklung und Vielfältigkeit. Das relativ einfache Ausstellungskonzept transportiert auch eine einfache Botschaft: Einen Stuhl ohne Beine zu entwerfen bedeutet keine Einschränkung der Möglichkeiten. Weniger ist mehr ist hier nicht nur Designmaxime sondern auch Designherausforderung.
Mit 25 Stühlen aus der Neuen Sammlung – The International Design Museum Munich ist „Stühle ohne Beine“ nicht nur die erste Zusammenarbeit des Bauhaus-Archivs mit der Neuen Sammlung sondern auch der Beginn der Reihe zu Gast im Bauhaus-Archiv, in der verschiedene internationale Museen eingeladen sind, speziell kuratierte Ausstellungen in der deutschen Hauptstadt zu präsentieren.
Zur Ausstellungseröffnung haben wir mit dem Direktor der Neuen Sammlung Florian Hufnagl über die Geschichte, Entwicklung und Bedeutung des Freischwingers gesprochen.
(smow)blog: Fangen wir beim Anfang an. Es gab und gibt immernoch Meinungsverschiedenheiten, wer den Freischwinger „erfunden“ hat. Spielt die Debatte noch eine Rolle oder ist es lediglich relevant dass der Stuhl erfunden wurde?
Florian Hufnagl: Es ist heute schon noch wichtig, da es der erste Streit über das Thema Gestaltung war, der vor Gericht ausgetragen wurde. Dort wurde nicht nur eindeutug zugunsten von Mart Stam entschieden, sondern auch klar Marcel Breuers Beitrag definiert. So eine grundsätzliche Klärung ist bis zum heutigen Tage für jeden Entwerfer wichtig, weil es für ihn zumindest in Europa einigermaßen Sicherheit gibt.
(smow)blog: Denken Sie es war die richtige Entscheidung?
Florian Hufnagl: Ja, ich glaube schon, dass dort eindeutig richtig entschieden wurde.
(smow)blog: Die ersten Freischwinger waren ein Produkt ihrer Zeit …
Florian Hufnagl: … Ja, das war eine große Veränderung. Der große Schnitt. Ich glaube, es gab im 20. Jahrhundert vielleicht drei große Schnitte: die Jahrhundertwende mit Josef Hoffmann, dann ganz allgemein gesagt die zweite Hälfte der 1920er Jahre und dann noch einmal von 1968-70. Das waren die großen Veränderungen in der Gestaltung, wo man sich getrennt hat vom Althergebrachten und neue mutige Wege eingeschlagen hat auf denen auch mal ein paar Freischwinger zu Bruch gingen – sozusagen eine Bruchlandung für die Designer, aber „no risk no fun“. Also hat es eine Weile gedauert, bis die Entwicklung weiter gehen konnte. Wenn man aber nicht an die Grenzen geht, wird man auch nicht weiterkommen.
(smow)blog: In Bezug auf den Freischwinger: Gibt es einen bestimmten Moment, an dem er zum erfolgreichen Massenprodukt wurde?
Florian Hufnagl: Wie viele Bauhausentwürfe, wurde der Freischwinger erst nach dem zweiten Weltkrieg und besonders in den 1960er Jahren populär.
(smow)blog: Die Ausstellung zeigt auch ein paar Plastikfreischwinger aus der DDR. War das eine typische DDR-Entwicklung: billige Massenproduktion …?
Florian Hufnagl: Es gibt eine ganze Reihe Entwürfe von DDR-Entwerfern zum Thema Freischwinger und es war immer die Absicht diese preiswert herzustellen. Das war in Westdeutschland oder z.B. in Italien nicht anders. Vergessen Sie nicht, dass Firmen wie Kartell aus der ideologischen Not heraus mit Kunststoff gearbeitet haben um preiswerte, bunte Möbel für die Jugend zu produzieren, die man sich leisten kann, die man stapeln kann, die man wegstellen kan, die man immer wieder neu kombinieren kann. Die Entwerfer in der DDR hatten immer das Problem, dass die Mangelwirtschaft überall war, dass in der DDR zwar viel entworfen wurde, die Produkte aber nicht die Käufer erreichten. Viele Produkte gingen stattdessen in den Westen oder in die Sowjetunion – aber nicht in die DDR.
(smow)blog: Die Freischwinger spiegelten ihre Zeit immer auch im verwendeten Material wider. Denken Sie, Freischwinger bieten den Designern auch heute noch eine Plattform zum Experimentieren?
Florian Hufnagl: Beim MYTO von Konstantin Grcic, der in Zusammenarbeit mit BASF entstand, hat sich ein Weltkonzern mithilfe eines Designers fokussiert die Entwicklung eines neuen Materials weiter zu treiben. Das ist ein beispielhaftes Projekt, da es heute immer um neue Materialien geht. Wir brauchen neue Materialien in jeder Hinsicht – nicht nur um bestimmte Entwürfe herzustellen, sondern auch um Themen wie die Nachhaltigkeit zu lösen. Hergestellte Produkte müssen schließlich auch sinnvoll weiterverwendet werden können.
(smow)blog: In Ihrer Eröffnungsrede haben Sie angesprochen, dass der Stuhl bereits erfunden wurde, was die Hersteller aber nicht davon abhält, ein paar tausend „neue“ Stühle in Mailand vorzustellen. Wo bleiben Sie als Museumsdirektor und Direktor einer Sammlung denn in Mailand stehen und schauen?
Florian Hufnagl: Der Zugang ist bei mir wie bei jeder Person, die die (Waren- und Konsum-)Welt um sich herum mit offenen Augen betrachtet, sehr emotional. Löst ein Stuhl eine Reaktion aus, weil er neu oder anders ist oder etwas möglich macht was bisher nicht bekannt war, ist das eine ganz ganz große Ausnahme: Vielleicht ein halber Stuhl von 100.
(smow)blog: Das heißt Sie reisen jedes Jahr mit großen Hoffnungen nach Mailand, aber kommen mit leeren Koffern zurück?
Florian Hufnagl: Ja, das passiert durchaus. Aber es gibt auch immer wieder Überraschungen. Die Warenwelt wird nun mal immer größer, die Bedürfnisse immer weniger. Die eigentliche Erfindung ist selten, aber das war auch im 20. Jahrhundert so und im 19. Jahrhundert nicht anders. Darum gibt es Museen, die das Besondere auswählen und zeigen und so einen Beitrag zur Orientierung leisten.
„Stühle ohne Beine“ ist bis zum 10. Juni 2012 im Bauhaus-Archiv Berlin zu sehen.