Der niederländische Designhistoriker Timo de Rijk war der Hauptredner beim Norm=Form Symposium, das Anfang September in Leipzig stattfand. Er kuratierte außerdem die Ausstellung Norm=Form und ist Mitherausgeber des begleitenden Buches.
Im Laufe seiner sehr unterhaltsamen obgleich provokanten Rede verfolgte de Rijk die Geschichte der Standardisierung über die Jahrhunderte hinweg und verdeutlichte seine Meinung darüber, wieso wir Standards haben. Dazu gehörte auch ein großartiger Vergleich der Kommunistischen Partei Chinas mit Industriedesignern.
Nach seiner Rede trafen wir Timo de Rijk, um mit ihm etwas detailierter über einige der von ihm angesprochenen Themen zu sprechen.
(smow)blog: Sofern wir Sie richtig verstanden haben, waren für Sie, historisch gesehen, soziale und kulturelle Veränderungen die treibenden Faktoren für die Standardisierung. Ist das heute noch immer der Fall? Oder spielen wirtschaftliche Faktoren jetzt eine größere Rolle?
Timo de Rijk: Die Standardisierung wird in Fabriken offenbar als wirtschaftliches und technisches Hilfsmittel benutzt: Wenn man Produkte standardisiert kann man mehr und billiger produzieren. Aber ich denke, man kann ein Produkt nur dann etablieren, wenn eine gewisse Dringlichkeit besteht; das Produkt muss einen Sinn haben. Und in diesem Moment entsteht ein Standard.
(smow)blog: Heißt das, dass Produkte oder Lösungen, die sich selbst am besten etablieren, zum Standard werden? Wir denken da an Videos oder JPGs…
Timo de Rijk: JPG ist ein gutes Beispiel. Im technischen Sinne ist es miserabel und sämtliche Ingenieure fragen sich, wie ein solches Format derart beliebt werden konnte. Aber Ingenieure denken nun mal auf eine bestimmte Art und Weise, und zwar auf eine technische. Aber andere Menschen denken anders und bevorzugen Dinge, die vielleicht attraktiver oder praktischer sind. Deshalb benutzen wir JPGs. Aber nicht nur JPGs. Für mich ist es purer Zufall, dass die Levi’s 501 derart populär wurde. Das hätte mit jedem Modell passieren können, aber Levi’s waren zur richtigen Zeit mit dem richtigen Material am richtigen Ort.
(smow)blog: Welche Rolle spielen Normen und Standards im modernen Produktdesign? Wie haben sie das Produktdesign verändert?
Timo de Rijk: Ich glaube, dass sich die Designer heute der immensen Bedeutung des sozialen und kulturellen Sinns eines Produktes viel bewusster sind als noch vor vierzig oder fünfzig Jahren. Designer von heute sind sich der Stellung der Produkte in der Gesellschaft sehr bewusst. Das müssen sie auch, denn das ist ihr Job.
(smow)blog: Ist das die soziale Akzeptanz, die Sie in Ihrem Vortrag angesprochen haben? Muss ein Bürodrehstuhl also ergonomisch sein, weil er sonst keinen Erfolg haben kann?
Timo de Rijk: Ja, aber ich glaube, es ist sogar mehr als das. Arbeiten Sie in einem Büro?
(smow)blog: Ja.
Timo de Rijk: Und was erwarten Sie von ihm?
(smow)blog: Ein bisschen Ruhe und Frieden, so dass man in Ruhe arbeiten kann…
Timo de Rijk: Ok, aber Sie sind nicht nur Angestellter, sondern auch ein Mensch. Ein Büro muss nicht wie ein Zuhause aussehen, sollte aber ein Ort mit sozialer Sicherheit und Komfort sein. Wenn also Ihr Bürostuhl ok ist und die übrigen Büromöbel hässlich, oder wenn sich der Stuhl gut sitzt, aber furchtbar aussieht und den Raum eines mittelgroßen Elefanten einnimmt, fühlen Sie sich nicht wohl, Sie sind nicht sonderlich glücklich und können folglich nicht so gut arbeiten.
(smow)blog: Sie haben heute auch davon gesprochen, dass für Sie viele moderne Produkte auf historischen Standards basieren. Heißt das demzufolge, dass Standards die Kreativität behindern?
Timo de Rijk: Es ist sehr schwer, mit Konventionen zu brechen; nicht nur, weil das Publikum diese Konventionen erwartet. Deshalb ist man als Designer immer eingeschränkt. Man muss sich seiner Grenzen aber bewusst sein, um mit ihnen spielen zu können. Wenn man sich als Designer seiner Grenzen nicht bewusst ist, scheitert man. Wenn man sich ihrer jedoch bewusst ist und versucht, sie auf subtile und intelligente Weise zu ändern, kann man nur Erfolg haben.
(smow)blog: Zu Beginn Ihrer Rede erwähnten Sie Einwegrasierer und am Ende kamen Sie auf Apple und iTunes. Kann man sagen, dass der iTunes Store der Einwegrasierer des 21. Jahrhunderts ist?
Timo de Rijk: Ich will einen Song nicht unbedingt als Einwegprodukt bezeichnen; ich sehe da allerdings eine enge Verbindung zwischen Herstellern, die sich dessen bewusst sind, dass ihr Produkt an Wert gewinnt, wenn etwas mit ihm verbunden ist. Zum Beispiel beim Kauf eines neuen Autos: Ein Auto ist so designt, dass man immer wieder zum Kaufort zurückkehren muss, wenn etwas repariert werden muss. In modernen Autos gibt es jede Menge Elektronik, die man nicht mehr selbst reparieren kann. Ein Auto ist also dazu designt, nach seinem Verkauf Dienstleistungen zu verkaufen.
(smow)blog: Das bringt uns zu Ihrer Arbeit in Delft, „Beyond Design“: Sie beschäftigen sich eher mit solchen Situationen als den reinen Produkten per se.
Timo de Rijk: Genau. Stellen Sie sich ein Auto vor, das nicht auseinander fällt, aber regelmäßig gewartet werden muss. Ein solches Produkt schafft Arbeitsplätze und Einkommen, muss aber nicht ersetzt werden, so dass wir weniger Stahl benutzen. Solche Dinge, die in Bezug auf Nachhaltigkeit und soziale Stabilität für die Gesellschaft wichtig sein könnten, diskutieren wir in Delft.